von Irene Somm
Der Aufklärung über gesunde Ernährung haftet in westlichen Gesellschaften seit jeher ein moralischer Unterton an. Mit blick auf die gesellschaftlichen Kosten von Übergewicht wird zwar heute nicht mehr offen mit erhobenem Zeigefinger argumentiert – eher wird versucht, der Problematik mit versachlichter Aufklärung zu begegnen. Weiterhin fehlt jedoch eine Sensibilität für soziale Ungleichheit.
Staatlich finanzierte Präventionsmaßnahmen in der frühen Kindheit haben deutlich zugenommen. Diese zielen immer auf die „Professionalisierung der Elternrolle“. Die Schattenseiten eines solchen Impetus sind jedoch unübersehbar: Erstens sind Kinder sozioökonomisch benachteiligter Familien einer immer früheren Etikettierung als gefährdet oder potenziell defizitär ausgesetzt. Zweitens lässt sich eine verstärkte Individualisierung der Verantwortung für Gesundheitsprobleme beobachten. Und drittens erfolgt eine sehr frühe Sortierung von Eltern entlang der Trennung „kompetent“ versus „inkompetent“.
Der aktuell in der Gesundheitspolitik selbstverständlich genutzte Begriff der Kompetenz im Zusammenhang mit gesunder Ernährung hat also einen deutlichen Schichtbias: Für gebildete Eltern ist der Ausdruck eine gern verwendete, weil selbstwertdienliche Formel, für benachteiligte Eltern hingegen ein Unwort und eine Quelle von Minderwertigkeitsgefühlen. Damit hat der Begriff der elterlichen Ernährungskompetenz den Beigeschmack einer bildungsbürgerlichen Umerziehungsgeste gegenüber einer sogenannten Unterschicht, die in Sachen Ernährung Nachholbedarf hat.
Sozio-emotionale Komponenten berücksichtigen
Aktuelle Debatten um nachhaltige Ernährung stoßen leider ins selbe Horn: Sich nachhaltig zu ernähren ist für grün-liberale, urbane Mittelschichtseltern zu einer wichtigen Unterscheidungsressource geworden: Umweltbewusste Eltern bringen ihren Kindern früh bei, was nicht gut für die Umwelt ist. Und die Kinder tragen es weiter, markieren ihre Position und lernen, sich denjenigen überlegen zu fühlen, die immer noch viel zu viel Wurst essen.
Doch es muss bezweifelt werden, dass die aktuelle Ernährungspolitik eine gute Basis für gelingende Prävention darstellt. Ein Aspekt müsste in der Prävention von ernährungsbedingten Gesundheitsproblemen deutlich stärker berücksichtigt werden, ist er doch seit Langem bekannt: Ernährung hat eine starke sozio-emotionale Komponente – nicht nur, dass Ernährung psychische Gesundheit fördern oder beinträchtigen kann oder dass beim Essen in Situationen mangelnden sozialen Glücks und fehlender gesellschaftlicher Anerkennung die eigene physische Gesundheit nicht an erster Stelle steht. Vielmehr fehlt auch der Blick darauf, dass tradierte Ernährungsgewohnheiten elementar mit Zugehörigkeits- und Verwurzelungsgefühlen verbunden sind.
Auch die emotionale Basis kultureller Unterschiede in der Wahrnehmung des Körpergewichts von Kindern ist wenig präsent: So gilt Wohlgenährtheit der eigenen Kinder für manche Elternmilieus mit Migrationsgeschichte als Inbegriff guter Fürsorge und Beleg dafür, dass sich ein Leben im Exil gelohnt hat.
Industrie einen schritt weiter
Während die Präventionspolitik noch weit davon entfernt ist, die emotionale Komponente von Ernährung konsequent zu berücksichtigen, nutzt die Werbung diese seit jeher geschickt. Trotz Selbstverpflichtungsformeln bewirbt die Industrie ungeniert „Kinderlebensmittel“ auf allen Kanälen und gaukelt Eltern freundlich vor, dass diese besonders gut für ihre Kinder wären. Kinder werden von überteuerter Wurst in Bärchenform angelacht oder von herzförmigen Schokobons für ihr Frühstücksmüsli – alle versprechen einen besonderen Genuss. Dass gerade solche Eltern und Kinder von diesen Glücksversprechen besonders angezogen werden, deren Familienleben sich aktuell etwas weniger reichhaltig anfühlt, ist nachvollziehbar.
Dass sich in Deutschland noch immer keine Zuckersteuer durchgesetzt hat, ist mehr als bedenklich – andere Länder sind hier weiter. Selbst wenn eine solche Steuer keinen gesünderen Lebensstil garantiert, wäre diese doch ein gewichtiges Signal, um die Mitverantwortung der Industrie sichtbar zu machen – und die sozialen Kosten des Zuckerkonsums. Ähnliche Forderungen bestehen bzgl. der an Kinder gerichteten, stetig zunehmenden
Bewerbung von ernährungsphysiologisch ungesunden Lebensmitteln (vgl. Jahresbericht Stiftung Kindergesundheit 2022). Das Landwirtschaftsministerium plant hierzu momentan sehr moderate Eingriffe, die von den Lobbyverbänden dennoch massiv bekämpft werden.
Dr. Irene Somm, Sozialpädagogin und Soziologin, Netzwerk Handlungsforschung und Praxisberatung, Wissenschaftlicher Beirat der Stiftung Kindergesundheit und des Netzwerks Gesund ins Leben.
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