Rahmenbedingungen für eine Menschenrechtsbasierte Governance sind essentiell, um Daten getriebene Ausbeutung zu verhindern und bestehende Ungleichheiten in Nahrungsmittelsystemen zu begrenzen.
Eines Morgens im Jahr 2019 erwachten die Bewohner von Naya Toli, einem Dorf im Osten Indiens, um festzustellen, dass sie über Nacht landlos geworden waren. Diesmal waren es weder Bulldozer noch bewaffneten Banden, die sie von ihrem Land vertrieben, sondern ein staatliches Programm zur Digitalisierung von Grundbucheinträgen. Das neue digitale Register schrieb 108 Hektar in ihrem Gebiet dem früheren Besitzer zu, welcher das Land im Jahr 1973 an 19 Familien verkauft hatte.
Was auf den ersten Blick wie ein einfacher technischer Fehler erscheinen mag, offenbart ein grundlegendes Problem bei der überstürzten Einführung digitaler Technologien: Sie bergen das Risiko, bestehende Ausgrenzungen zu zementieren und Ungleichheiten zu verschärfen.
Machtgefälle in digitalen Technologien
Oft wird Versprochen, dass digitale Technologien die Nahrungsmittelsysteme produktiver, nachhaltiger und effizienter gestalten und gleichzeitig dazu beitragen können, den wachsenden Welthunger zu bekämpfen. In Wirklichkeit wird die Digitalisierung der Landwirtschaft hauptsächlich großen Unternehmen zugutekommen, während Kleinbauern, indigene Völker und andere marginalisierte Gruppen Gefahr laufen, abgehängt zu werden. Kleinbauern befürchten, dass ihre Daten ohne ihre Zustimmung extrahiert und verwendet werden, um Produkte und Dienstleistungen zu erstellen, die dann mit Gewinn an sie verkauft werden – was ihre Abhängigkeit von externen Akteuren vertieft und die Taschen von Konzernen füllt. Immerhin bestehen enorme Machtungleichgewichte zwischen ländlichen Gemeinschaften und multinationalen Technologie-Konglomeraten.
Die indische Regierung begann in den 1990er Jahren mit der Digitalisierung von Grundbuchunterlagen und startete 2008 ihr ehrgeiziges Programm zur Modernisierung der Landregistrierung von Digital India (DILRMP). Bis 2019 hatte der Bundesstaat Jharkhand mehr als 99% seiner Grundbuchunterlagen digitalisiert. Nur 2,3% Prozent des Landes wurde physisch Vermessen. Durch den rasanten Prozess verschwanden die Landrechte und Ansprüche vieler Gemeinschaften, wie die von Nava Toli, in den neuen digitalen Registern. Als die Bewohner dort versuchten, ihre Grundsteuern zu zahlen, verweigerten die Beamten dies mit der Begründung, dass sie keine Steuern für Land zahlen könnten, das ihnen, gemäß den Aufzeichnungen von DILRMP, nicht gehörte. Die Bewohner haben seitdem erheblichen Schwierigkeiten versucht die Informationen im Register mit zu korrigieren.
Gemeinschaften in ganz Indien berichten von ähnlichen Erfahrungen, insbesondere Kleinbauern und indigene Völker, die traditionelle Ansprüche auf Gemeinschaftsland oder kollektive Formen des Grundbesitzes haben. Die neuen digitalen Register konnten die Vielfalt der Besitzformen nicht dokumentieren, was die Marginalisierung dieser Gruppen weiter verstärkte. Indische Gemeinschaften sind nicht allein: Von Brasilien über Ruanda und Georgien bis Indonesien stehen Menschen vor ähnlichen Herausforderungen.
Die Fallstricke der „digitalen Landwirtschaft“
Die Digitalisierung von Grundbuchunterlagen ist nur ein Teil einer schnellen und weitreichenden Transformation der Nahrungsmittelsysteme, die manchmal als „digitale Landwirtschaft“ bezeichnet wird. Die indische Regierung kündigte 2021 an, dass neue digitalisierte Grundbuchunterlagen in Agri Stack aufgenommen würden, einem staatlich unterstützten Datenaustausch, der die Integration von Landdaten mit Bauernprofilen und anderen nicht menschlichen Agrardaten (Wetter, Bodengesundheit, Hydrologie usw.) ermöglicht. Das erklärte Ziel ist die Schaffung eines Pools aggregierter Daten, um maßgeschneiderte Produkte und Dienstleistungen für Bauern zu erstellen.
Aber wie in anderen Wirtschaftsbereichen läuft ein Wettbewerb um profitable Daten und Technologien zur Datenerfassung und -verarbeitung, einschließlich künstlicher Intelligenz. In den letzten Jahren haben sich mehrere der weltweit führenden Agrarunternehmen mit großen Technologieunternehmen wie Alphabet, Microsoft und Amazon zusammengetan. Diese stellen die technische Infrastruktur, wie cloudbasierte Systeme und künstliche Intelligenz, bereit, die einer Reihe neuer Anwendungen und Dienstleistungen zugrunde liegt, die von Agrarunternehmen an Bauern verkauft werden. In Indien haben massive Bauernproteste die neuen landwirtschaftlichen Gesetze herausgefordert, die im September 2020 vom Parlament verabschiedet wurden und den Agrarsektor des Landes für Unternehmen geöffnet haben. Die neuen Gesetze fielen zeitlich mit der Einführung von Agri Stack zusammen und verstärkten die Befürchtungen der Bauern vor einer neuen Welle von datengetriebenen Landnahmen.
Gerechte Digitalisierung
Aus den Erfahrungen der Gemeinschaften in Indien und anderen Ländern lassen sich zwei wichtige Lehren ziehen. Erstens sind die Entwicklung und Nutzung digitaler Technologien fest in einem gegebenen sozioökonomischen Kontext verwurzelt. Technologie entwickelt sich nicht isoliert, sondern wird von Geld und Macht geprägt, die beide in einigen großen Unternehmen hoch konzentriert sind. Zweitens gehen die Auswirkungen der Digitalisierung über den Datenschutz und die Privatsphäre hinaus. Die Digitalisierung betrifft konkret die Gerechtigkeit und die Verteilung von Ressourcen und Wohlstand. Sie muss proaktiv gestaltet werden, um unsere Gesellschaften gerechter zu machen, anstatt Ausschluss- und Diskriminierungsmuster zu reproduzieren. Es besteht ein dringender Bedarf an starken, auf Menschenrechten basierenden Governance-Rahmenwerken, die Grundsätze und Standards für die Nutzung digitaler Technologien im Kontext von Lebensmitteln und Landwirtschaft festlegen.
Regierungen und die Vereinten Nationen scheinen sich endlich dieser Herausforderung zu stellen. Der UN-Menschenrechtsrat hat kürzlich eine Resolution zu „neuen und aufkommenden digitalen Technologien und Menschenrechten“ verabschiedet. Die Resolution hebt zwar, dass Potenzial dieser Technologien hervor, erkennt aber auch die Risiken an, die sie für Menschenrechte, einschließlich wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte von marginalisierten Gruppen wie indigenen Völkern und Menschen in ländlichen Gebieten, darstellen können. Darüber hinaus fordert sie Staaten auf, Governance-Rahmenwerke zu schaffen, um die nachteiligen Auswirkungen digitaler Technologien auf Menschenrechte zu verhindern, zu mildern und zu beheben, einschließlich der Regulierung der Aktivitäten von Technologieunternehmen.
Der Ausschuss für Welternährungssicherheit der UN hat ebenfalls kürzlich eine Reihe von Politikempfehlungen zur Erfassung und Nutzung von Daten im Kontext der Ernährungs- und Ernährungssicherheit angenommen. Dieses Dokument enthält den ersten formellen Versuch, zu beschreiben, wie Daten und damit zusammenhängende Technologien die Lebensmittelsysteme beeinflussen und Anleitungen zur Verwaltung der damit verbundenen Chancen und Risiken vorzuschlagen. Die Empfehlungen, die im Oktober 2023 verabschiedet werden sollen, erkennen Bauern, indigene Völker und andere Kleinproduzenten von Lebensmitteln erstmals als Rechteinhaber ihrer Daten und des damit verbundenen Wissens an, mit dem Recht auf einen gerechten Anteil an den aus diesen Daten generierten Vorteilen.
Ob diese globalen Initiativen dazu beitragen werden, die Nutzung digitaler Technologien in der Lebensmittel- und Landwirtschaft so zu gestalten, dass sie die Menschenrechte unterstützt, bleibt abzuwarten. Sie zeigen jedoch deutlich, dass die von der Digitalisierung aufgeworfenen Fragen intrinsisch politischer Natur sind. Wir können es nicht den Technikern und Unternehmen überlassen, die Zukunft unserer Gesellschaften zu gestalten.
Wie die Bauernproteste in Indien zeigen, bieten Lebensmittelproduzentenvereinigungen eine alternative Vision in den Technologien den Menschen und dem Planeten dienen und nicht finanziellen Interessen.
Das Original von Philip Seufert, Referent bei FIAN International für Rohstoffe und Finanzialisierung, erschien am 22.09.23 unter dem Titel:“ Digital agriculture: A new frontier for data rights“ bei OpenGlobalRights, übersetzt von Fian Deutschland