Faktenfrei und festentschlossen, aber unbekümmert über das Menschenrecht auf Nahrung – Die neuerliche Debatte über das Bürgergeld
Hartz IV, Bürgergeld, Neue Grundsicherung. Nach der CDU soll letzteres der neue Name der Sozialleistung für Arbeitslose werden, um ihr den Anschein zu nehmen, dass es sich um ein Bürger- oder Grundrecht handeln könnte. Die Bürgergelderhöhung zum 1. Januar 2024 von 502 Euro auf 563 Euro war auf heftige Ablehnung der CDU gestoßen. Die Anhebung des Bürgergeldes sei ein falsches Signal; der Regelsatzes müsse abgesenkt und mehr Druck auf arbeitsunwillige Erwerbslose ausgeübt werden. Dabei belegen Studien, dass Sanktionen nicht geeignet sind, mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Nach Daten der Bundesagentur für Arbeit vom Februar 2024 ist für 700 000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte eine Arbeit derzeit unzumutbar, weil sie kleine Kinder betreuen, Angehörige pflegen oder zur Schule gehen. Ein Großteil der Grundsicherungsempfänger ist entweder nicht erwerbsfähig oder steht dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung. Ganze 2.190 Totalverweigerern hatte die Bundesanstalt für Arbeit im August 2023 gezählt! Die CDU betrachtet arbeitslose Leistungsempfänger als potenzielle Missbraucher. Dabei müsste nach Berechnungen des DPWV der Regelsatz statt der kritisierten 563 Euro auf mindestens 813 Euro für alleinstehende Erwachsene angehoben werden, um wirksam vor Armut schützen zu können.
Nötig ist nicht nur eine faktenbasierte Debatte über die Zukunft der sozialen Sicherung. Vor allem müssen auch die Rechte armer Menschen respektiert werden. Es gibt ein Verfassungs-recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum. Das Bundesverfassungsgericht hat 2019 Leistungskürzungen unter bestimmten Voraussetzungen zwar zugelassen – doch nur in der Höhe von maximal dreißig Prozent. Die Ampelkoalition ist dieser höchstrichterlichen Entscheidung gefolgt. Doch genau das, was das Bundesverfassungsgericht untersagt, fordert die CDU: nämlich die völlige Streichung von Sozialleistungen bei Totalverweigerern. Das ist nicht nur einfach Rechtsblindheit, es werden auch völkerrechtlich verbindliche Maßstäbe ignoriert und verletzt.
Die Menschenrechtskommissarin des Europarats Dunja Mijatović wies in ihrem Bericht von 2023 auf Lücken bei der Bekämpfung von Armut in Deutschland hin. Sie begrüßte die Erhöhung des Bürgergeldes zwar, doch der Regelsatz liege immer noch deutlich unter den von Menschenrechtsorganisationen und Experten als notwendig erachteten 725 Euro. Nach dem Europäischen Ausschuss für Soziale Rechte (ECSR) dürfen Regelsätze die Armutsschwelle nicht unterschreiten. Diese beträgt für Singles 1.186 Euro im Jahr 2022. Das Bürgergeld gewährleiste deshalb keinen angemessenen Lebensstandard. Trotz des vergleichsweise gut ausgebauten Sozialstaat in Deutschland gibt es soziale Probleme, die von menschenrechtlicher Relevanz sind. Das betrifft auch das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, zu dem das Menschenrecht auf Nahrung gehört.
Ernährungsarmut in Deutschland
Über das tatsächliche Ausmaß von Ernährungsarmut in Deutschland liegen nur wenige belastbare empirische Daten vor. Die hohe Besucherzahl gerade von Familien mit Kindern an den Tafel belegt das Problem aber augenfällig. Ernährungsarmut ist eine in Deutschland verdrängte Realität. Die Ausgabeposten, die der Regelsatz für Nahrung vorsieht, sind jedoch aufschlussreich. So werden im Regelsatz von 2024 für die Ernährung von Kindern unter 5 Jahren 3,85 Euro/Tag, für die Altersgruppe der 6 bis 13 Jahre 5,03 Euro/Tag Euro und für alleinstehende Erwachsene: 6,42 Euro/Tag angesetzt. Detailstudien belegen, dass die Regelsätze (von 2019) der Sicherung des Lebensunterhalts und den Ernährungsbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen nicht gerecht werden. Auch der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft konstatiert, dass es in Deutschland „armutsbedingte Fehl- und Mangelernährung und sogar Hunger“ gibt. Eine angemessene Ernährung ist mit dem Regelsatz offensichtlich nicht finanzierbar.
Recht auf ausreichende Nahrung
Das Recht auf Nahrung ist ein Teilbereich des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard. In den Kommentaren wird das Menschenrecht auf Nahrung inhaltlich gefüllt mit einem Recht auf eine gesunde und nährstoffreiche Ernährung. Die „Allgemeinen Bemerkungen zum Recht auf angemessene Nahrung“ sehen das Menschenrecht auf einen angemessenen Lebensstandard „dann verwirklicht, wenn jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, einzeln oder gemeinsam mit anderen, jederzeit physisch und wirtschaftlich Zugang zu angemessener Ernährung oder Mitteln zu ihrer Beschaffung hat. Das Recht auf angemessene Ernährung darf daher nicht eng oder restriktiv im Sinne einer Mindestration an Kalorien, Proteinen und anderen spezifischen Nährstoffen ausgelegt werden.” Ein Verstoß gegen den Sozialpakt liege dann vor, „wenn ein Staat nicht wenigstens die Befriedigung des zur Vermeidung von Hunger unverzichtbaren Mindestbedarfs an Nahrung sicherstellt“. Die vom Staat durch Gesetzgebung festgelegte Regelsatzbemessung sind der Maßstab, an dem sich entscheidet, ob das soziale Menschenrecht auf Nahrung geachtet, geschützt und gewährleistet wird.
Von der Öffentlichkeit kaum registriert, hat der UN-Sozialausschuss in seinen „Abschließenden Bemerkungen“ im Herbst 2018 die Sorge geäußert, dass die damalige Höhe der Regelleistungen insgesamt nicht ausreiche, um einen angemessenen Lebensstandard im Sinne des Art. 11 Abs. 1 UN-Sozialpakt zu finanzieren. Der grundlegende Bedarf kann nicht gedeckt werden, da die „Berechnungsgrundlage für das Existenzminimum“ fehlerhaft sei. Denn die Berechnungsmethode der Regelsätze sei nicht darauf ausgelegt, die Ernährungsbedürfnisse zu befriedigen. Die Finanzierung einer gesunden Ernährung wird bei der Berechnung des Bürgergelds methodisch nicht einmal angestrebt. Bezugspunkt des für Ernährung vorgesehenen rechnerischen Anteils der Regelsätze sind nämlich nicht die Kosten für eine gesunde und ausreichende Ernährung, sondern Maßstab sind die Ausgaben der einkommensschwächsten 15 Prozent der Einpersonenhaushalte. Mit dem Bürgergeld kann zwar eine punktuelle Unterdeckungen aus einem Bereich durch Rückgriff auf einen anderen Bereich ausgeglichen und überdurchschnittliche Ausgaben in einem Bereich durch Verzicht in einem anderen Bereich kompensiert werden. Doch die für Nahrungsmittel vorgesehenen Beträge ermöglichen nach wissenschaftlichen Studien weder für Erwachsene noch für Kinder eine gesunde Ernährung. Nur wenn auf andere grundlegende Bedürfnisse verzichtet würden, wäre eine gesunde Ernährung mit den Bürgergeld-Regelsätzen möglich. Das aber entspricht nicht den völkerrechtlichen Anforderungen für das Menschenrecht auf Nahrung.
Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat zudem auf, die Sanktionspraxis zu überprüfen, damit das Existenzminimum stets garantiert ist. Zudem sei das Recht auf Nahrung gerade bei Schulkindern nicht gewährleistet. Deren Menschenrecht auf angemessene Nahrung kann jedoch nicht durch Tafeln, Kindertafeln oder vergleichbare private Initiativen erfüllt werden.
Die Regelsätze des Bürgergelds verletzen das Recht auf Nahrung
Der UN-Sozialausschuss sieht den Staat in der Pflicht, das Recht auf angemessene Nahrung durch die sozialen Sicherungssysteme und entsprechende Regelsatzhöhen zu verwirklichen. Insofern die Regelsätze des Bürgergeldes unzureichend sind, um das Recht auf Nahrung zu verwirklichen, liegt eine Verletzung von Art. 11 Abs. 1 UN-Sozialpakt durch den Staat vor. Da die Regelsätze gesetzlich festgelegt werden, stellt sie eine durch Gesetz hervorgerufene Unterversorgung armer Menschen dar. Der Zugang zur ausreichender Nahrung wäre aber möglich. Deshalb ist Ernährungsarmut in einer reichen Gesellschaft Indikator für ein politisches Versagen und den fehlenden politischen Willen, die verfassungs- und menschenrechtswidrige Unterdeckung des Existenzminimums zu beseitigen.
Angesichts der derzeitigen Debatte sei der CDU gesagt: Nicht die Kürzung der Grundsicherung, vielmehr ist aus menschenrechtlicher Sicht eine Erhöhung der Regelsätze und eine Abschaffung existenzbedrohender Sanktionen geboten.
Autor: Prof. em. Dr. Franz Segbers, Sozialethiker, Mitglied im Beirat von FIAN