Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem neuen FoodFirst, dem FIAN-Mitgliedermagazin. Er wurde von Philipp Seufert und Jan Dreier geschrieben. Sie sind neugierig auf weitere spannende Artikel geworden? Das FoodFirst-Magazin können Sie hier abonnieren. Oder sichern Sie sich ein kostenloses Probeexemplar in gedruckter Form. Schreiben Sie einfach eine E-Mail an info@fian.de.
Saatgut ist ein Grundstein für die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung. Aber bäuerliche Rechte und Saatgutsysteme stehen unter Beschuss: Das System geistiger Eigentums-rechte breitet sich immer weiter aus, und auch die EU treibt bäuerliche Saatgutsysteme immer stärker in die Enge. Dabei gehört die Entkriminalisierung und Förderung bäuerlicher Saatgutpraktiken zu den wichtigsten Schritten für eine nachhaltige Transformation der Landwirtschaft.
Kein bäuerliches Saatgut existiert ohne eine Gemeinschaft, die dieses erhält, nutzt und weiterentwickelt. Frauen sind meistens die Hüterinnen von lokalem Saatgut. Sie spielen somit eine herausragende Rolle für die globale Ernährungssicherheit. In Afrika beispielsweise kommen 80 bis 90 Prozent des verwendeten Saatguts aus bäuerlicher Hand – die Mehrheit davon Frauen. Aus diesem Grund betonte der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Michael Fakhri wiederholt: „Bäuerliche Saatgutsysteme und das Recht auf Nahrung sind untrennbar miteinander verbunden“. Der Begriff „Saatgutsysteme“ steht dabei für die kollektiven Regeln und Praktiken, mit Hilfe derer ländliche Gemeinden ihr Saatgut nutzen und verwalten.
Auch der UN-Sozialausschuss bestätigt, dass der Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Saat-gut eine Grundvoraussetzung für die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung ist. Das Recht auf Saatgut und dabei speziell das Recht, Saatgut aufzubewahren, zu verwenden, auszutauschen und zu verkaufen, ist daher in mehreren völkerrechtlichen Abkommen und Erklärungen verankert, darunter die UN-Kleinbäuer*innenerklärung (UNDROP), der Internationale Pakt für pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft der Welternährungsorganisation (ITPGRFA) sowie das Übereinkommen über die biologische Vielfalt (CBD).
Die EU-Saatgutverordnung und die Verdrängung bäuerlicher Saatgutsysteme
Trotz ihrer völkerrechtlichen Verankerung und ihrer Bedeutung für die Ernährungssicherheit, die Verwirklichung von Menschenrechten sowie den Schutz von Ökosystemen werden bäuerliche Saatgutsysteme immer stärker marginalisiert. Auf EU-Ebene finden derzeit mehrere Prozesse statt, die diesen zunehmend den Boden unter den Füßen wegziehen. Einer davon ist der Reformprozess zur EU-Verordnung zur Vermarktung von Saatgut.
Vorschriften dieser Art sollen eigentlich ausschließlich den industriellen Sektor betreffen und die Registrierung, Zertifizierung sowie Qualitätskontrolle von kommerziellem Saatgut sicher-stellen. Das Problem dabei: Ihrem Daseinszweck widersprechend werfen diese Gesetze bäuerliches und industrielles Saatgut in einen Topf. So müssen bäuerliche Betriebe für ihr viel-förmiges Saatgut den gleichen regulatorischen Aufwand betreiben wie die Agrarindustrie für ihr einheitlich standardisiertes. Das bäuerliche Recht, frei über das eigene Saatgut zu verfügen und es an andere kleine Landwirt*innen weiterzugeben, wird dadurch massiv beschnitten.
Dies ist auch im Fall der EU-Saatgutrichtlinien zutreffend. Doch anstatt eine Reform einzuleiten, welche bäuerliche Saatgutpraktiken ausklammert, hat die EU-Kommission im Juli 2023 einen Gesetzesvorschlag vorgelegt, nach dem sogar noch mehr Landwirt*innen betroffen wären. Die Kosten für kleine und mittlere Produzent*innen würden steigen und die Zahl der angebotenen Pflanzensorten zurückgehen.
(Neue) Gentechnik: Gegenstück zu bäuerlichen Saatgutsystemen
Im vollständigen Gegensatz zu bäuerlichen Saatgutpraktiken stehen gentechnisch veränderte Organismen (GVO) und die sogenannten „Neuen Gentechniken“ (NGT). Durch NGT wie CRISPR/Cas wird beabsichtigt, natürliche Grenzen zu sprengen und die Entwicklung von Pflanzen vollständig unter menschliche Kontrolle zu bringen. Indem bestimmte Gensequenzen mit einer Genschere gezielt entfernt und durch andere Sequenzen ersetzt werden, sollen neue Pflanzensorten mit ausgewählten Eigenschaften erschaffen werden.
Die Saatgutindustrie behauptet, solche Gensequenzen seien nicht als pflanzengenetische Ressourcen, sondern lediglich als „Informationen“ zu verstehen. Nach der Argumentationslogik der Industrie sollten NGT daher aus den bestehenden Regulierungen von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) rausgestrichen werden.
Welchen Erfolg die Saatgutindustrie mit diesem Narrativ hat, zeigt ein Gesetzesvorschlag der EU-Kommission vom Juli 2023. Nach diesem würden bis zu 94 Prozent der NGT-Pflanzen nicht mehr reguliert. Der Großteil der NGT-Pflanzen, die aktuell entwickelt werden, würde ungeprüft, ungekennzeichnet und unkontrollierbar in die Lebensmittelerzeugung und Umwelt kommen. Brisant, denn die Forschung ist sich hinsichtlich möglicher Schäden für die Gesundheit von Mensch und Natur keineswegs einig. Ohne Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit jedoch gibt es keine Wahlfreiheit mehr für die Konsument*innen – und auch keine Haftung für mögliche Schäden. Eine gentechnikfreie Pflanzenzüchtung, Saatguterzeugung und Landwirtschaft wären mittelfristig nicht mehr möglich, da der Kontamination mit NGT-Genmaterial durch Einkreuzungen oder Vermischungen nicht mehr vorgebeugt werden könnte.
Geistige Eigentumsrechte bedrohen bäuerliche Saatgutsysteme
Flankiert werden solche Entwicklungen vom internationalen System geistiger Eigentumsrechte, das immer mehr auch auf Saatgut ausgeweitet wird. Das internationale Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum (TRIPS) ist hierbei das entscheidende Instrument, das die Saatgutindustrie nutzt, um ihre Macht zu vergrößern. TRIPS schreibt allen Staaten vor, Maßnahmen zum Schutz geistigen Eigentums von Pflanzensorten vorzunehmen.
International dominierend ist hierbei das Internationale Übereinkommen zum Schutz von Pflanzenzüchtungen (UPOV), wovon auch die EU ein Teil ist. Dieses wurde zum Schutz von industriell hergestelltem Saatgut entwickelt und unterscheidet nicht ausreichend zwischen bäuerlichen und industriellen Saatgutpraktiken. So ist es Bäuer*innen untersagt, Saatgut wieder auszusäen, zu konservieren, zu tauschen oder zu verkaufen, wenn dieses von Pflanzensorten stammt, die unter UPOV-Schutz stehen.
Bei einer tatsächlichen Umsetzung der beiden Gesetzesvorschläge der EU-Kommission würden die Saatgut- und die gesamte Agrarindustrie auf Kosten von bäuerlichen Rechten enorm profitieren. Es ist stark davon auszugehen, dass die reichsten Unternehmen ihre Ressourcen nutzen würden, um so immer mehr Pflanzensorten und Gensequenzen unter Patentschutz zu stellen – bis zur vollständigen Verdrängung bäuerlicher Saatgutsysteme.
Globale Folgen geistiger Eigentumsrechte und der Widerstand dagegen
Die EU beherbergt mehrere der größten Saatgutkonzerne der Welt, die ihre Wettbewerbsvorteile nutzen könnten, um ihre Konkurrenz ins Abseits und die Konsolidierung des Saatgutmarktes weiter voran zu treiben. Ihre Macht und Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme würden weiter verstärkt und bäuerliche Saatgutsysteme global unter erheblichen zusätzlichen Druck gesetzt. Zudem könnten andere Staaten die Politiken der EU zum Vorbild nehmen und ähnliche Gesetze erlassen. Dies hätte nicht nur drastische Folgen für Menschen-rechte, sondern auch für die globale Biodiversität.
Obwohl es Ländern innerhalb von TRIPS explizit erlaubt ist, an lokale Kontexte angepasste Systeme zu entwickeln, breitet sich das UPOV-System immer weiter aus. Ein Beispiel dafür, wie diese Entwicklungen vorangetrieben werden, sind die laufenden Verhandlungen um ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indonesien: Für ein Zustandekommen stellt die EU die Bedingung, dass auch Indonesien dem UPOV-Übereinkommen beitritt.
Allerdings regt sich auch von staatlicher Seite aus Widerstand. So erklärte Honduras 2021 das UPOV-Übereinkommen für verfassungswidrig – mit der Begründung, dass es im Gegensatz zum honduranischen Grundgesetz sowie zu mehreren internationalen Menschenrechtsabkommen steht.
Wider die Kriminalisierung bäuerlicher Saatgutsysteme
Das Recht auf Saatgut ist völkerrechtlich verankert. Es sind bäuerliche Saatgutsysteme, die als Grundstein für eine nachhaltige Transformation der Landwirtschaft die biologische und kulturelle Vielfalt schützen. Bäuerliche Saatgutsysteme müssen daher entkriminalisiert und außerhalb des Anwendungsbereichs von Verordnungen für die Vermarktung von Saatgut positioniert werden. Um der Bedeutung dieser Systeme für das Recht auf Nahrung und die Artenvielfalt gerecht zu werden, sollten Staaten spezifische gesetzliche Rahmen schaffen. Dazu gehört, bäuerliches Saatgut vor jeglicher Patentierung zu schützen. Von der landwirtschaftlichen Nutzung von GVO sollte gänzlich abgesehen werden. Mindestens sollten Staaten jedoch strikte, menschenrechtsbasierte Regeln für die Nutzung aller GVO einführen. Für die EU heißt das, rechtlich zu verankern, dass NGT gemäß der Gentechnik-Richtlinie reglementiert wer-den, wie es auch der Gerichtshof der Europäischen Union angeordnet hat. Außerdem müssen Freihandelsabkommen sowie diesbezügliche Verhandlungen, die bäuerliche Saatgutsysteme gefährden, beendet werden. Nur auf diesem Weg können das Recht auf Saatgut und das Recht auf Nahrung verwirklicht werden.
Philip Seufert arbeitet bei FIAN International zu Land, Biodiversität und Digitalisierung. Jan Dreier arbeitet bei FIAN Deutschland und ist Redakteur des FoodFirst-Magazins.