von Jan Dreier
Der Globale Süden befindet sich in einer gewaltigen Schuldenkrise. Internationale und nationale Gläubiger verlangen Rückzahlungen in Höhe von rund neun Billionen US-Dollar – eine nicht zu stemmende Last, die fünfmal so groß ist wie noch vor 20 Jahren. Die Konsequenzen für die Bevölkerung sind Armut und Ernährungsunsicherheit.
„Die Staaten des Globalen Südens haben sich ihre Überschuldung aufgrund von Misswirtschaft und Korruption selber zuzuschreiben“. So oder so ähnlich lauten die vorherrschenden Narrative zum Thema Staatsverschuldung. Dass dies jedoch eine stark verkürzte Erklärung ist, welche deutlich schwerer wiegende Gründe für die anhaltende Verschuldung verkennt, lässt sich am Beispiel Jamaikas gut illustrieren:
Im Jahr 2013 erhielt das karibische Land vom Internationalen Währungsfonds (IWF) einen Kredit in Höhe von einer Milliarde US-Dollar – explizit mit dem Verwendungszweck, damit bestehende Schulden abzubezahlen. Das Paradoxe daran: Zu diesem Zeitpunkt hatte Jamaika mit 19,8 Milliarden US-Dollar bereits mehr Geld an den IWF zurückgezahlt als die ursprünglich geliehenen 18,5 Milliarden. Die Spielregeln des internationalen Schuldensystems besagen jedoch, dass Jamaikas Regierung dem IWF aufgrund von Zinsen und Zinseszinsen weitere 7,8 Milliarden US-Dollar „schuldet“ – eine schier endlose Spirale, aus der sich das Land ohne einen Schuldenschnitt nicht befreien kann. Für die Menschen in Jamaika – und in allen anderen hochverschuldeten Staaten des Globalen Südens – hat dies ganz konkrete Auswirkungen. Der IWF zwingt Jamaikas Regierung, das Wohl der eigenen Bevölkerung dem Schuldendienst unterzuordnen und doppelt so viel Geld für die Schuldentilgung auszugeben wie für Bildung und Gesundheit zusammen.
Zu der Entwicklung tragen zunehmend auch Schulden bei privaten Gläubigern bei. In Sambia beispielsweise ist die Verschuldung beim Finanzgiganten Blackrock ein wesentlicher Faktor dafür, warum das Land 2021 mehr als die Hälfte seines Nationaleinkommens für die Tilgung von Schulden aufgewendet hat.
Nach dem Kolonialismus ist vor der Strukturanpassung: Globaler Süden bleibt Peripherie
Doch wie gerieten Länder wie Jamaika und Sambia überhaupt in diese Schuldenfalle? In vielen Ländern des Globalen Südens begann alles mit der Zerstörung kleinbäuerlicher Strukturen und deren Ersatz durch Plantagensysteme. Europäische Kolonialherren richteten die Wirtschaft fortan allein darauf aus, landwirtschaftliche Erzeugnisse und andere Rohstoffe für den Export zu produzieren. Bis zum Ende der Kolonialzeit Mitte des 20. Jahrhunderts bestimmten so nur einige wenige – überwiegend unter Zwangsarbeit produzierte – Pflanzenarten und Rohstoffe die Ökonomie dieser Länder.
Da die Wirtschaft in diesen Staaten auch nach der Kolonialzeit stark auf den Export ausgerichtet war, traf sie die Ölkrise in den 1970er Jahren mit voller Härte. Der massive Anstieg der Ölpreise führte zu einem Einbruch der Exporte. Die Kosten für Importe – unter anderem Nahrungsmittel – schossen in die Höhe. Viele Staaten sahen keinen anderen Ausweg, als Kredite bei den dominanten internationalen Finanzinstitutionen, dem IWF und der Weltbank, aufzunehmen.
Es folgten die sogenannten Strukturanpassungsprogramme der 1980er Jahre, mit denen die Finanzinstitutionen umfassende neoliberale Umstrukturierungen durchsetzten. Für neue Kredite – die benötigt wurden, um bestehende Schulden abzuzahlen – forderten der IWF und die Weltbank von den Schuldnerstaaten, Subventionen für Grundnahrungsmittel zu streichen, Landwirtschaftsprogramme zu beenden, öffentliche Dienstleistungen wie die Wasserversorgung zu privatisieren, öffentliche Gehälter stark zu kürzen und die Währung zu entwerten. Das Ergebnis war ein Anstieg der Armut, durch die viele Menschen in die Ernährungsunsicherheit rutschten.
Die Bedeutung von Staatsschulden für Ernährungssysteme
Die heute hoch verschuldeten Länder haben sich von diesen Strukturanpassungsmaßnahmen nie wieder erholt. Der Zinseszinseffekt, kontinuierlich steigende Zinsen und Schocks wie COVID-19, welche die öffentlichen Ausgaben in die Höhe trieben, ziehen eine ständig wachsende Schuldenlast nach sich. Was aber hat diese Schuldenkrise mit nicht-nachhaltigen Ernährungssystemen zu tun? Ein wichtiger Aspekt ist die Fremdwährungsbindung. Wieder auf das Beispiel Jamaika bezogen bedeutet diese, dass Jamaika seine Schulden ausschließlich in US-Dollar zurückzahlen muss, weil der Kredit des IWFs in ebenjener Währung vergeben wurde.
An dieser Stelle offenbaren sich die Zusammenhänge zwischen Staatsschulden und nicht-nachhaltigen Ernährungssystemen am deutlichsten. Denn viele Staaten besitzen kaum US-Dollar oder andere “starke” Währungen. Eine der wenigen Möglichkeiten, wie sie solche “starke” Währungen generieren können, besteht darin, Güter auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Viele hochverschuldete Regierungen des Globalen Südens sehen hierfür den einfachsten Weg über den Export landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Im Ergebnis setzen viele Staaten zur Ernährung der Bevölkerung auf Nahrungsimporte, welche wiederum durch Nahrungsmittelexporte finanziert werden. Diese Rechnung geht jedoch meistens nicht auf. So haben sich laut Welthandelsorganisation die Ausgaben für Nahrungsimporte der ärmsten Länder der Welt in den letzten fünfundzwanzig Jahren mehr als verzehnfacht – von etwa sechs Milliarden US-Dollar 1997 auf über 60 Milliarden 2022. Die Exporterlöse dagegen sind nur von etwa fünf Milliarden auf 30 Milliarden US- Dollar gestiegen.
Gefährdung des Rechts auf Nahrung durch „Export-Import-Ernährungssysteme“
Die Finanzierung von Nahrungsmittelimporten und damit die Ernährung der Bevölkerung steht also in direkter Konkurrenz zur Schuldentilgung. Ob ein solcher Staat das Recht auf Nahrung für seine Bürger*innen gewährleisten kann, hängt einerseits davon ab, welchen Schwankungen die Nahrungsmittelpreise auf dem Weltmarkt unterliegen und andererseits davon, wie hoch die Schuldenrückzahlungen sind, die von ihm gefordert werden. Hinzu kommt, dass sich viele Staaten abhängig gemacht haben von synthetischen Düngemitteln, Pestiziden und Hybridsaatgut, um dem Exportdruck mit dem Anbau von industriellen Monokulturen gerecht zu werden. Da auch diese teuer erstanden werden müssen, belaufen sich in einigen Ländern die Ausgaben für Agrarchemikalien mittlerweile auf bis zu einem Viertel des öffentlichen Haushalts, mit steigender Tendenz. In Ländern wie Indien, Kenia und den Philippinen ist daher neben der Schuldenfalle ebenfalls die Rede von einer Düngemittelfalle. Aber auch unabhängig von diesen Faktoren haben „Export-Import-Ernährungsmodelle“ gravierende Implikationen für das Recht auf Nahrung. Eines der grundlegendsten Probleme manifestiert sich in der Landnutzung. Denn der Anbau von Massenexportgütern beansprucht riesige Flächen, die nicht mehr für die Ernährung der eigenen Bevölkerung zu Verfügung stehen. Zudem beansprucht dieser Anbau oftmals den Großteil der ohnehin kleinen öffentlichen Agrarbudgets. In Sambia zum Beispiel gehen etwa 70 Prozent des Agrarhaushaltes in die Subventionierung von Dünger und Hybridsaatgut. Kleinbäuer*-innen, die eigentlich für die Ernährung der Menschen sorgen, werden von ihrem Land zugunsten der Agrarindustrie verdrängt. Die Artenvielfalt sowie Nahrungsmittel, die traditionell zur Ernährung der Bevölkerung gedient haben, gehen verloren.
„Unsere Regierungen werden finanziell
ausgehungert und können nicht die nachhaltigen Ernährungssysteme aufbauen, die
wir brauchen, um uns selbst zu ernähren.“
Transformation der Ernährungssysteme durch Schuldenschnitt
Der kontinuierliche Schuldendienst in Verbindung mit den nicht-nachhaltigen Export-Import Ernährungssystemen sind entscheidende Gründe dafür, dass in den meisten hoch verschuldeten Staaten des Globalen Südens ein großer Teil der Bevölkerung in Ernährungsunsicherheit lebt. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, braucht es dringend eine Transformation der Ernährungssysteme – weg von der Abhängigkeit von Nahrungsimporten und Agrarchemikalien hin zu Agrarökologie und Ernährungssouveränität.
Doch aufgrund der Schuldenfalle und dem beständigen Druck, Fremdwährungen zu generieren, können die Staaten diese Transformation nicht angehen: „Die […] Ernährungssysteme vieler afrikanischer Länder stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Wir haben keine Wahl, als immer teurer werdende Grundnahrungsmittel zu importieren, während der Klimawandel unsere Ernten zerstört und Schuldenzahlungen außer Kontrolle geraten. Unsere Regierungen werden finanziell ausgehungert, sodass sie nicht die nachhaltigen Ernährungssysteme aufbauen können, die wir brauchen, um uns selbst zu ernähren“, so der Wirtschaftsexperte Million Belay von IPES-Food, einem internationalen Expert*innengremium. Damit die dringend erforderliche Transformation der Ernährungssysteme in Gang gesetzt werden kann und die Länder des Globalen Südens ihre Ernährungssouveränität (wieder)erlangen können, muss der erste Schritt ein umfassender Schuldenschnitt sein.
Zum Weiterlesen: IPES-Food, 2023. Breaking the cycle of unsustainable foodsystems, hunger, and debt.
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Artikel als PDF: Staatsschulden und nicht-nachhaltige Ernährungssysteme – ein Teufelskreis