Ende der 90er Jahre wurden Mikrokreditprogramme als Wundermittel zur Armutsbekämpfung propagiert und seither mit tatkräftiger Unterstützung westlicher Entwicklungsbanken und privatwirtschaftlicher Investoren in vielen Ländern des globalen Südens verbreitet. In Kambodscha leiden heute Hunderttausende Mikrokreditnehmer*innen an den Folgen der Mikrokredit-Überschuldungskrise: erzwungene Landverkäufe, Ernährungsunsicherheit, Schulabbrüche und Schuldknechtschaft.
Mikrofinanzboom
Mikrokreditprogramme wurden ursprünglich zumeist von Nichtregierungsorganisationen ins Leben gerufen mit dem Ziel, Armut durch „Hilfe zur Selbsthilfe“ und die Förderung von Kleinstunternehmertum zu mindern. Im Laufe der 2000er Jahre hat sich dies schließlich zu einer äußerst profitablen Multimilliarden-Dollar-Industrie entwickelt. 2017 umfasste der globale Mikrofinanzmarkt ein Kreditportfolio von über 100 Milliarden US-Dollar. Doch belastbare wissenschaftliche Nachweise für den nachhaltigen Nutzen der Mikrokreditprogramme für die Armutsbekämpfung gibt es kaum. Systematische Metastudien zeigen, dass Mikrokredite – wenn überhaupt – nur sehr geringe positive Wirkungen erzielen. Die menschenrechtlichen Risiken von Mikrokrediten werden darüber hinaus kaum beachtet.
Überschuldungskrise in Kambodscha
Kambodscha ist seit vielen Jahren eines der Hauptzielländer für Mikrofinanzinvestitionen und verfügt heute über einen der weltweit größten und profitabelsten Mikrofinanzsektoren. Lag die Gesamtverschuldung durch Mikro- und Kleinkredite im Jahr 2009 noch bei 300 Millionen US $, so sind es heute bereits über 14 Milliarden. Über die Hälfte der Haushalte sind verschuldet; die durchschnittliche Kreditsumme beträgt über 5.000 US $. Die Privatverschuldung in Kambodscha gehört damit zu den höchsten weltweit (gemessen am Bruttoinlandprodukt). Laut Weltbank werden nur 28% der Kredite in Kambodscha für produktive Zwecke genutzt – für ein Geschäft oder landwirtschaftliche Produktion. Zudem gibt es keine Kund*innenschutzgesetze für Mikrofinanzdienstleistungen und keine funktionierende und unabhängige Überwachung, um den Schutz von Kreditnehmer*innen zu gewährleisten.
Schuldengetriebene Landverkäufe und Menschenrechtsverletzungen dokumentiert
Mehrere anerkannte kambodschanische Menschenrechtsorganisationen haben seit Mitte 2019 wiederholt Untersuchungen durchgeführt und veröffentlicht, welche die menschenrechtlichen Folgen dieser Überschuldungskrise aufzeigen. Besonders problematisch ist, dass die Mehrheit der Mikro- und Kleinkredite in Kambodscha mit Land besichert sind, obwohl dies eigentlich der Grundidee der Mikrokredite widerspricht. Damit verfügen die Mikrokreditanbieter über ein enormes Druckmittel, um die Rückzahlung der Kredite durchzusetzen.
In den hochverschuldeten Haushalten wird an den ohnehin knappen Nahrungsmitteln gespart; Familienmitglieder müssen in die Städte oder ins Ausland migrieren; und Kinder und Jugendliche werden aus der Schule genommen, um zu arbeiten und bei der Rückzahlung der Kredite zu helfen. Schließlich kommt es auch zu schuldengetriebenen und außergerichtlich erzwungenen Landverkäufen. Einigen Familien gelingt es nicht mehr, der Schuldenfalle zu entkommen. Sie werden in die Schuldknechtschaft getrieben, häufig in Ziegeleien, in denen mehr als 10.000 Menschen schuften, darunter viele Kinder.
FIAN führte seit Anfang 2020 drei Recherchereise nach Kambodscha durch, zuletzt im Februar 2023. Im Rahmen dieser Recherchen interviewte FIAN zahlreiche Kreditnehmer*innen, die Kund*innenschutzverletzungen durch marktführende Mikrofinanzinstitute und Banken und schwere soziale Folgen der Überschuldung, bis hin zu Menschenrechtsverletzungen, bestätigten. Im Februar 2022 veröffentlichte FIAN die Studie „Mikrokredite und Überschuldungskrise in Kambodscha“, in der auch die Mitverantwortung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit und privater Investoren erläutert wird, die viele der marktführenden Mikrofinanzinstitute und Banken finanzieren, welche für systematische Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.
„Das Mikrokreditinstitut forderte mich immer wieder auf, Geld bei Kredithaien zu leihen oder mein Land zu verkaufen, um die Schulden zu begleichen. Aber wenn ich mein Land verkaufe, habe ich nichts mehr.“ Kambodschanische Bäuerin, Interview mit FIAN im Februar 2022
FIAN setzt sich für Schuldenerlasse und Reformen ein
Europäische und deutsche Entwicklungsbanken und private Investoren spielen seit vielen Jahren eine wichtige Rolle bei der Finanzierung des kambodschanischen Mikrofinanzsektors. Auf Drängen von FIAN hat die Bundesregierung eine unabhängige Studie in Auftrag gegeben, die das Problem der weit verbreiteten Überschuldung in Kambodscha bestätigt. Laut der 2022 erschienenen Studie kommt es zu einer „bedenklich hohen“ und „nicht akzeptablen“ Zahl von schuldengetriebenen Landverkäufen – rund 167.000 kambodschanische Haushalte verkaufen mussten in den letzten fünf Jahren Land verkaufen, um Kredite zurückzuzahlen. Die Studie empfiehlt unter anderem Schuldenerlasse für die ärmsten Kreditnehmer*innen und den Ausstieg der deutschen Entwicklungszusammenarbeit aus dem Sektor. FIAN macht weiter Druck, damit die Empfehlungen nun auch umgesetzt werden.
Darüber hinaus unterstützt FIAN die kambodschanischen Partnerorganisationen bei einer Beschwerde gegen die Weltbank- IFC sowie bei einer Beschwerde gegen den privaten Investor Oikocredit, die ebenfalls an der Finanzierung führender kambodschanischer Mikrokreditgeber beteiligt sind.
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