Zum heutigen „Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen“ ruft der weltweite Verband von Kleinbäuer*innen La Via Campesina, mit dem FIAN eng kooperiert, zur Solidarität mit von Gewalt betroffenen Frauen auf. Zu diesem Anlass macht FIAN Deutschland auf die Situation marokkanischer Saisonarbeiterinnen in der südspanischen Agrarwirtschaft aufmerksam.
Die andalusische Provinz Huelva liegt am südwestlichen Zipfel Spaniens und wird aufgrund der klimatischen und landwirtschaftlichen Ähnlichkeiten als „Kalifornien Europas“ bezeichnet. Agrarwirtschaftlich ist die Region mit elftausend Hektar auf den Anbau und Export vom „roten Gold“ konzentriert: 100 % der spanischen Himbeeren, 96 % der Heidelbeeren und 97 % der Erdbeeren stammen aus der Provinz. Die roten Früchte landen hauptsächlich auf EU-Märkten. An erster Stelle steht Deutschland mit einem Importvolumen von 399 Millionen Euro.
Die Rekrutierung marokkanischer Saisonarbeiterinnen
Zur Erntesaison (Februar bis Juni) werden jährlich etwa 20.000 Saisonarbeitskräfte aus Marokko nach Huelva ‚rekrutiert‘. Das Auswahlverfahren läuft wie folgt: Die Agrarunternehmen melden ihren Bedarf an Arbeitskräften an die spanische Botschaft in Rabat. Anschließend trifft die ANAPEC (Nationale Marokkanische Arbeitsagentur) eine Vorauswahl des Personals. Voraussetzung für die Einstellung ist, dass es sich um Frauen zwischen 18 und 44 Jahren handelt, die familiäre Verpflichtungen im Lande haben und über Erfahrung in der Landwirtschaft verfügen. Häufig wird argumentiert, dass Frauen „liebevoller“ mit den Produkten umgehen, sich weniger rebellisch gegenüber ihren Vorgesetzten verhalten und über weniger Konfliktpotenzial in den Unterkünften verfügen. Die Auswahl beruht jedoch nicht nur auf diesen ihnen zugeschriebenen patriarchalen Stereotypen. Vielmehr gibt es ganz praktische, politisch und wirtschaftlich kalkulierte Gründe, die die Beschäftigung von Migrantinnen so attraktiv machen: Durch die Kriterien soll sichergestellt werden, dass die Frauen nach der Saison, wenn sie ‚nicht mehr gebraucht werden‘, in ihre Heimat zurückkehren. Die Rolle als Mutter mit familiären Verpflichtungen wirkt zusätzlich disziplinierend, die miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen zu akzeptieren. Die endgültige Auswahl wird schließlich vom „Arbeitgeberverband für Erdbeerwirtschaft“ in Spanien getroffen. Dabei werden sogenannte ‚schwarze Listen‘ geführt – Arbeiterinnen, die in der Vergangenheit durch gewerkschaftliche Organisierung oder Kritik an den Zuständen auffällig geworden sind, werden nicht wieder ausgewählt.
Menschenrechtliche Einordnung:
Die hier dargelegten Zustände verletzen zahlreiche Tarifvereinbarungen und nationale Gesetzgebung. Darüber hinaus wird u.a. gegen die in Artikel 3 des UN-Sozialpakts definierte Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie gegen Artikel 7 zu gerechten Arbeitsbedingungen verstoßen.
Spanien ist zudem Unterzeichner des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW). Artikel 11 des CEDAW-Abkommens spezifiziert dabei zahlreiche Rechte im Bereich der Beschäftigung. Mit Artikel 14 enthält die Frauenrechtskonvention zudem eine Vorschrift, die eine spezifische Form der intersektionalen Diskriminierung erfasst – die von Frauen in ländlichen Gebieten. Nicht zuletzt hat Spanien die ILO-Konvention 190 über die Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt ratifiziert.
Menschenrechtsverletzungen und Gewalt
Feste in Tarifverträgen ausgehandelte Arbeitszeiten, Löhne und Arbeitsschutzmechanismen werden in Huelvas Agrarwirtschaft systematisch umgangen. Viele Arbeiter*innen werden nach Akkordlohn bezahlt. Oft wird von Arbeitstagen berichtet, die mehr als zehn Stunden dauern, ohne dass Überstunden anerkannt und bezahlt werden. Betriebsleitungen nutzen dafür häufig fehlende Sprachkenntnisse und mangelndes Wissen über arbeits- und aufenthaltsrechtliche Fragen gezielt aus. Bereits unmittelbar nach der Ankunft werden Arbeiterinnen dazu angehalten Dokumente zu unterschreiben, deren Inhalt sie häufig nicht verstehen. Auch die Unterbringungssituation ist zunehmend prekär und entspricht häufig nicht annähernd den gesetzlichen Mindestanforderungen. Zudem ist die letzten Jahre eine steigende Zahl von Frauen zu beobachten, die in informelle Chabola-Siedlungen gedrängt werden. Dabei handelt es sich um selbst gebaute Baracken aus Plastik und Paletten, ohne Zugang zu Wasser, sanitären Anlagen und Strom.
Auch im Bereich der Gesundheitsrechte und des Arbeitsschutzes sind die Konsequenzen der Lohneinsparungen besonders drastisch. Neben akuten Unfällen und chronischer Rückenschmerzen durch die hohe körperliche Belastung stellen in erster Linie Atemwegs- und Hautkrankheiten durch den Einsatz von Pestiziden ein permanentes Risiko für Agrararbeiter*innen in Huelva dar. Im Bereich der Gesundheitsrechte ist zudem eine erhöhte Vulnerabilität von Frauen zu beobachten: Auf der einen Seite verfügen viele Gewächshäuser über keine sanitären Anlagen, und die Arbeiterinnen sind ohne Zugang zu fließendem Wasser. Dies kann für Frauen besonders während der Menstruation problematisch sein. Bei Frauen muss außerdem der genderspezifische Faktor möglicher Schwangerschaft beachtet werden. Trotz der erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen werden die Arbeiterinnen dazu angehalten, weiter zu arbeiten. Darüber hinaus konnten durch investigative Recherchen von BuzzFeed und Correctiv im Jahr 2018 massive Fälle von Verletzungen sexueller und reproduktiver Rechte aufgedeckt werden. In dem Bericht trauten sich erstmals Arbeiterinnen, offen über sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungen auf andalusischen Erdbeerfeldern zu sprechen.
(Marian Henn)
Weiterlesen:
Die Recherche von Pascale Müller und Stefani Prandi „Vergewaltigt auf Europas Feldern“ für BuzzFeed und Correctiv
Artikel von Marian Henn „Der Aufstand der unsichtbaren Hände“ über Saisonarbeiter*innen in Huelva
FIAN unterstützt weltweit Frauen bei der Durchsetzung des Rechts auf Nahrung, wie etwa aktuell in Uganda, wo die Armee brutal gegen Fischereigemeinden vorgeht. Erfahren Sie mehr über unsere Fallarbeit in Uganda und helfen Sie die Gewalt gegen Fischer*innen zu beenden.