Der UN Sonderberichterstatter zum Recht auf Wohnen, Prof. Balakrishnan Rajagopal, hat im März 2024 seinen neusten Bericht veröffentlicht. Darin befasst er sich mit Umsiedlungen nach Vertreibungen und Zwangsräumungen – ein Thema, das auch FIAN häufig beschäftigt. Schon im Titel bezeichnet er die massenhaften Umsiedlungen als Menschenrechtskrise. Seit den 90er Jahren sind hiervon über 300 Mio. Menschen betroffen.
Hintergrund: Die Sonderberichtbestatter*innen der UN sind im Auftrag der Vereinten Nationen tätig, um die Lage und Entwicklung zu verschiedenen Menschenrechten zu bewerten und diesbezüglich Empfehlungen abzugeben. Im Rahmen dieser Aufgaben erstellen sie regelmäßig Berichte zu Fragen, die im Zusammenhang mit ihrem Mandat stehen, und berichten dem UN-Menschenrechtsrat.
Mindestens zehn Millionen Betroffene jährlich
Der Bericht „Resettlement after evictions and displacement: addressing a human rights crisis“ befasst sich mit der Menschenrechtssituation von Menschen, nachdem sie vertrieben oder (zwangs-)umgesiedelt wurden. Begonnen wird mit einer Auflistung von menschenrechtlichen Verträgen, Richtlinien und anderen Instrumenten, die als menschenrechtsbasierte Normen im Kontext von Umsiedlungen dienen. Neben den zentralen Menschenrechtsdokumenten wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem UN-Sozialpakt und regionalen Menschenrechtskonventionen spielen auch UN-Erklärungen, Allgemeine Rechtskommentare sowie freiwillige Leitlinien eine wichtige Rolle. In der Auflistung fehlen jedoch die sehr detaillierten Leitlinien, die von seinem Vorgänger Milon Kothari erarbeitet wurden.
Rajagopal erklärt zwar, dass es bisher keine global akzeptierten Standards über die Durchführung von Umsiedlungen in einer menschenrechtskonformen Art und Weise gibt. Es fehlt hierbei jedoch der Verweis auf die UN-Landleitlinien, welche zwischenstaatlich verhandelt und 2012 ohne Gegenstimmen verabschiedet wurden.
Die Bedeutung des Themas kann jedoch menschenrechtlich gesehen kaum unterschätzt werden. Laut Rajagopal wurden von 1997 bis 2017 geschätzt 300 Millionen Menschen durch Entwicklungsinterventionen vertrieben, etwa 10 bis 15 Millionen pro Jahr. Neuere Schätzungen gehen inzwischen von einem Anstieg auf etwa 20 Millionen neuen Betroffenen pro Jahr aus. Angesichts der immer schneller steigenden Zahlen findet es der Sonderberichterstatter beunruhigend, dass es an klaren und verbindlichen Standards zur menschenrechtskonformen Umsetzung von Umsiedlungen bisher noch fehlt.
Massive Menschenrechtsfolgen
Die Folgen einer nicht menschenrechtlich orientierten Umsiedlung können für die betroffenen Personen immens sein. Neben dem Landverlust selbst werden sie immer wieder auch von ihren Lebensgrundlagen abgeschnitten. Oft gehen damit Verletzungen des Rechts auf Nahrung und des Rechts auf Wasser einher, da die neuen Orte diese Rechte nur in einem deutlich geringeren Ausmaß gewährleisten. Viele Personen geraten in die Obdachlosigkeit oder erhalten schlechtere Wohnräume, verlieren den Anschluss zur öffentlichen Infrastruktur, Bildung oder Gesundheit, verlieren ihre Arbeit und damit ihr Einkommen und werden von ihren sozialen Netzwerken getrennt. Hinzu kommen kulturelle Verluste, da das ursprünglich bewohnte Land oft über Generationen bewohnt wurde und eine kulturelle, historische und religiöse Bedeutung besitzt – zum Beispiel über Familiengräber.
Dies kann zu psychologischen Problemen bis hin zu Traumata führen. Oft kommt es auch zu Konflikten mit den Gemeinden, die in den neuen Wohngebieten leben und nun selbst verdrängt werden oder die teilweise schon knappen Ressourcen mit den Neuankömmlingen teilen müssen. Besonders betroffen sind vulnerable Gruppen, vor allem Frauen, ethnische und religiöse Minderheiten, Kinder, ältere Personen, Migrant*innen und indigene Menschen.
Weitere Menschenrechtsverletzungen geschehen während der Proteste gegen die Umsiedlung. Oft organisieren sich die betroffenen Personen nachvollziehbarerweise gegen die Umsiedlung und weigern sich, ihre Heimat freiwillig zu verlassen. Dies wird dann oftmals mit Drohungen und Gewalt beantwortet. Rajagopal stellt fest, dass in einigen Fällen auch bestimmte Minderheiten immer wieder von Umsiedlungen betroffen sind, sodass durch weitreichende und strukturelle Vertreibung und Marginalisierung eine Form von ethnischer Säuberung durchgeführt wird.
Für eine menschenrechtskonforme Umsiedlung wird in der Regel als entscheidend angesehen, ob die betroffenen Personen ihrer Umsiedlung zustimmen oder nicht. Aber selbst wenn die Gemeinschaften formal zustimmen, liegt in der Realität oft ein Fall von Zwangsumsiedlung mit Menschenrechtsverletzungen vor – vor allem wenn ein Verbleiben vor Ort mit Gefahren für die Betroffenen einhergehen würde oder gar keine realistische Möglichkeit einer Ablehnung besteht. Eine richtige Zustimmung liege dann gar nicht vor. Oft sind den betroffenen Personen alle Implikationen der Umsiedlung auch nicht bewusst.
Der Anteil an Umsiedlungen, die erfolgreich menschenrechtskonform durchgeführt wurden, verbleibt nach Rajagopal recht klein. Allerdings können die negativen Folgen für die Betroffenen durch ausreichende Einbeziehung und gute Projektplanung- und Umsetzung begrenzt werden. Oft reichen die Fonds, die zur Kompensation eingesetzt werden, nicht aus und decken nicht die Langezeitfolgen der Umsiedlung ab, die sich über mehrere Generationen erstrecken können; so hat die Weltbank beispielsweise anerkannt, dass das Tarbela-Wasserkraftprojekt in Pakistan auch für die nachfolgenden Generationen negative Folgen hat.
Mögliche Ansätze zur Problembewältigung
Die Gründe für Umsiedlungen sind vielfältig. Häufige Ursachen sind Naturkatastrophen und Umweltveränderungen (vor allem auch als Folge des Klimawandels) oder Konflikte. Oft werden Umsiedlungen aber auch als erforderlich angesehen, da sie der Verwirklichung von Entwicklungs-, Industrie- oder Urbanisierungsprojekten dienen. Landspekulation oder die Einschränkung von gemeinschaftlichen Landnutzungsrechten verschärfen diese Entwicklungen.
Insgesamt hat die Geschäftstätigkeit von Unternehmen erheblich zur Zunahme von Umsiedlungen beigetragen, die nicht mit Menschenrechten vereinbar sind. Verpflichtungen für Unternehmen zu Landrechten und freier, vorheriger und informierter Zustimmung wurden zwar ausgeweitet, gehen aber nicht mit Fortschritten bei der praktischen Gewährleistung der Achtung von Land- und Wohnrechten in der Unternehmenspraxis einher.
Die problematischsten Punkte sieht Ragagopal darin, dass die betroffenen Gruppen in der Projektplanung- und Umsetzung nicht ausreichend einbezogen werden, Kompensationen fast nie ausreichend sind und vorhandene Schutzvorschriften in der Praxis nicht ausreichend umgesetzt werden.
Die Investor*innen der Projekte setzen sich sehr selten dafür ein, dass die Menschenrechtsstandards eingehalten werden und erkennen die Notwendigkeit der Durchsetzung oft nicht an. Die Standards sind aber selbst auch nicht ausreichend oder widersprechen sich. So gibt es in vielen Staaten keine ausreichenden menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten bei Umsiedlungen. Ein Anspruch auf „faire Kompensation“ der Betroffenen ist zwar anerkannt; es wird in den entsprechenden Richtlinien und Gesetzen aber selten festgeschrieben, was das konkret bedeutet. Die Kompensationen umfassen oft nur die neue Unterkunft an sich und beziehen nicht mit ein, dass darüber hinaus weitere Menschenrechte als Folge der Umsiedlung verletzt werden. Ein Monitoring durch die verantwortlichen Behörden erfolgt oft nicht, insbesondere bei transnationalen Unternehmensprojekten. Auch die Möglichkeiten des gerichtlichen Schutzes sind oft eingeschränkt. Selbst bei klaren Menschenrechtsverletzungen können die Unternehmen dann nicht zur Verantwortung gezogen werden.
Rajagopal macht aber auch konkrete Verbesserungsvorschläge: Generell sollten Umsiedlungen immer nur die letzte Option sein und nur stattfinden, wenn sie aus Gründen der Sicherheit oder des Nutzens für die Betroffenen nicht vermeidbar sind. Die Freiheit der Wahl des Wohnorts darf durch die Umsiedlung nicht unrechtmäßig eingeschränkt werden. Die betroffenen Personen sollten Mitspracherechte bei der Wahl des neuen Orts haben. Es wurden einige wenige Fälle dokumentiert, bei denen sich die Situation der Betroffenen durch eine Umsiedlung sogar verbessert hat, da sie ausreichend miteinbezogen und kompensiert wurden.
Appell des Sonderberichterstatters
Rajagopal beendet seinen Bericht mit dem Appell, dass bei der Planung und Umsetzung von Umsiedlungen tiefgreifende Verbesserungen erfolgen müssen. Vor allem müssen internationale Richtlinien geschaffen werden, die genau aufzeigen, wie eine menschenrechtskonforme Umsiedlung erfolgen kann. Dabei muss konkret festgeschrieben werden, inwiefern eine Einhaltung von Menschenrechten in der Planung, Umsetzung und Evaluierung von Umsiedlungen ermöglicht werden kann. Am Ende empfiehlt der Sonderberichterstatter konkrete Maßnahmen.
Die Forderungen decken sich vielfach mit denen von FIAN. Gerade im Kontext von Naturschutz, Ökotourismus und anderen ökologisch gerechtfertigten Projekten, z.B. zum Klimaschutz, kommt es immer wieder zu Vertreibungen. Auch FIAN fordert Umsiedlungen und Vertreibungen nicht allein aus diesen Gründen zu rechtfertigen, sondern stattdessen gerade indigene Gruppen miteinzuschließen, anstatt Naturschutz und die Rechte der betroffenen Personen gegeneinander auszuspielen, wie es aktuell beispielsweise bei den Maasai in Tansania passiert.
Die proaktive, gemeinschaftliche und ernsthafte Beteiligung der betroffenen Personen schon während der Planung des Projekts, aber auch deren Beteiligung im Nachgang ist elementar und kann zumindest einen Teil der Verletzungen verhindern oder abmindern. In jedem Fall sollte eine aussagekräftige Zustimmung eingeholt werden. Bei indigenen Menschen ist außerdem ein „free, prior and informed consent“ (freie, vorherige und informierte Zustimmung) nach den anerkannten Richtlinien erforderlich. Ausreichende Unterkünfte und Land müssen zur Verfügung gestellt werden.
Alle bilateralen Investitionsabkommen über Investitionen in Land sollten Klauseln erhalten, die zur Einhaltung aller relevanter Menschenrechte aufruft, insbesondere dem Recht auf angemessenen Wohnraum. Die Abkommen müssen sicherstellen, dass diese Verträge volle Finanzierung für eine ausreichende Kompensation bieten. Außerdem muss sichergestellt werden, dass alle internationale Organisationen, einschließlich internationaler Finanzinstitute und Behörden der UN, einen effektiven Beschwerdemechanismus bei Umsiedlungen eingerichtet haben. Auch Unternehmen müssen Menschenrechte respektieren und deshalb insbesondere menschenrechtliche Sorgfaltspflichten beachten und effektive Beschwerdemechanismen einsetzen, die den „Guiding Principles on Business and Human Rights“ entsprechen. Zugang zu Gerichtsbarkeit muss von Anfang an sichergestellt werden.
Die effektivste Maßnahme wäre aber natürlich, ganz auf Umsiedlungen zu verzichten oder diese zumindest drastisch zu reduzieren. Eine zentrale Forderung von Rajagopal ist daher, international anzuerkennen, dass jeder Mensch ein Recht hat an dem Ort zu verbleiben, an dem er oder sie lebt.