Ein zentrales Narrativ zieht sich durch den bisher bekannt gewordenen Koalitionsvertrag: Bürokratieabbau, Bürokratieabbau, Bürokratieabbau. Doch Bürokratieabbau für wen?
Bürokratie stellt keineswegs nur eine Belastung für Unternehmen und Bürger*innen dar, sondern dient in Form notwendiger Regulierung dem Schutz des Rechtsstaats, der Menschen- und Arbeitsrechte, der Umwelt und des Klimas. Brandgefährlich sind daher Vorhaben, pauschal 25 Prozent der Verwaltungsvorschriften zu streichen, eine grundsätzliche Regelung von „One in, two out“ in Deutschland einzuführen und in der EU zu fordern, und Bürokratieabbau bei jedem EU-Dossier voranzutreiben. Stattdessen braucht es einen genauen Blick im Einzelfall, wo Bürokratie unnötig ist und wo der Schutzzweck bürokratischen Aufwand rechtfertigt. Gerade bei den in den letzten Jahren beschlossenen Regelungen der EU im Bereich Wirtschaft, Menschenrechte und Klimaschutz ist dies der Fall.
Doch die CDU/CSU plant einen Radikalschlag. Sämtliche Errungenschaften der letzten Jahre – die Regulierung für nachhaltige Investitionen (Taxonomie), Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD), die Lieferkettensorgfaltspflicht (CSDDD), die Entwaldungsverordnung (EUDR), den CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM), die Regelungen zu Zwangsarbeit und Konfliktmineralien – will sie abschaffen. Offenbar plant sie ein Zurück zur reinen Freiwilligkeit – als hätten die letzten Jahrzehnte der Regellosigkeit nicht gezeigt, dass ohne Gesetze der Ausbeutung und Umweltzerstörung in Lieferketten nicht beizukommen ist. Die zahllosen Beispiele von Kinder- und Zwangsarbeit, unmenschlichen und gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen, Fabrikeinstürzen und Bergbauunglücken sprechen eine allzu deutliche Sprache, sind aber offenbar schon wieder aus dem Gedächtnis konservativer Entscheidungsträger*innen verschwunden.
Gerade das Lieferkettengesetz ist nicht das Ergebnis staatlicher Überregulierung, sondern die Konsequenz aus dem Scheitern des Prinzips der freiwilligen Unternehmensverantwortung: Vor der Einführung des gesetzlichen Rahmens hielten sich über 80 Prozent der deutschen Unternehmen nicht an die UN-Standards bei der Achtung von Menschenrechten in ihren Lieferketten. Dabei lassen sich Belastungen der Wirtschaft durch Doppelungen bei Berichtspflichten oder die ungerechtfertigte Weitergabe von Sorgfaltspflichten im Rahmen von Lieferkettengesetz (LkSG) und EU-Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) vermeiden, wie ein Kurzgutachten des Juristen und Unternehmenspraktikers Daniel Schönfelder zeigt. Allein innerhalb der letzten drei Monate haben sich Hunderte von Unternehmen und Unternehmensvertreter*innen in öffentlichen Statements gegen die Abschwächung der von der EU beschlossenen Regulierungen gewandt. Zudem kommt ein völkerrechtliches Gutachten zu dem Schluss, dass die Bundesregierung mit einer Abschaffung des LkSG ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen verletzen würde, sowohl das menschenrechtliche Rückschrittsverbot der Vereinten Nationen als auch das europarechtliche Frustrationsverbot.
Zum Streichkonzert von CDU/CSU gehören zudem die klimapolitischen Leitlinien bei der Außenwirtschaftsförderung, die laut Wahlprogramm der CDU abgeschafft werden sollten, jetzt aber nur „flexibilisiert“ werden sollen. Die Abschaffung erweiterter Befugnisse des Bundeskartellamts, gegen Marktkonzentration vorzugehen, die die Ampelregierung gerade erst eingeführt hatte, und die maximale Reduzierung sämtlicher Nachhaltigkeitskriterien bei der öffentlichen Vergabe wie Tarifbindung, Umweltauflagen und Sozialvorgaben sind offenbar noch umstritten. Letztere als „vergabefremd“ zu denunzieren, bedeutet einen weiteren Rückschritt in überwunden geglaubte Zeiten, denn spätestens seit Verabschiedung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte 2011 ist es internationaler Konsens, dass Regierungen eine besondere Verantwortung für den Menschenrechtsschutz haben, wenn sie am wirtschaftlichen Geschehen beteiligt sind wie bei der öffentlichen Beschaffung und Außenwirtschaftsförderung.
Die AG-Papiere zeigen, wie sehr die CDU/CSU ihren Deregulierungswahn ohne Rücksicht auf Arbeiter*innen in globalen Lieferketten und die Umwelt durchzusetzen bereit ist. Die SPD wehrt sich noch in einigen zentralen Punkten wie dem Lieferkettengesetz und fordert z. B. Tariftreue bei staatlicher Förderung von Unternehmen. Auch für zwei zentrale Aktionspläne für den Schutz vor Ausbeutung setzt sie sich ein: die Umsetzung des Aktionsplans gegen Zwangsarbeit und eine Aktualisierung des Nationalen Aktionsplans Wirtschaft und Menschenrechte.
Als Netzwerk von über 60 Organisationen aus den Bereichen Menschenrechte, Umwelt, Entwicklung, Verbraucherschutz und Gewerkschaften appellieren wir an die SPD, sich weiterhin standhaft für den Schutz von Menschenrechten und Umwelt einzusetzen. Deregulierung auf Kosten von Menschen und Umwelt schafft Chaos, Leid und Rechtsunsicherheit. Die Union fordern wir daher auf, sich an ihre eigenen, christlichen Werte zu erinnern und von der geplanten Abschaffung bestehender Nachhaltigkeitsregulierungen Abstand zu nehmen.