Debt for Climate setzt sich für die Streichung von Staatsschulden der Länder im Globalen Süden ein. Zudem fordern sie vom Globalen Norden, ihre Klimaschulden an die Länder des Globalen Südens zu begleichen. Esteban Servat aus Argentinien und Louise Wagner aus Deutschland sind zwei Führungspersonen der Bewegung. Im Interview sprechen sie über die Zusammenhänge zwischen Schulden, Klimawandel und Hunger.
Was haben Schulden mit dem Klimawandel zu tun?
Esteban: Menschen wie ich, die aus dem Globalen Süden kommen, erleben Jahrzehnt um Jahrzehnt, wie unsere Länder unsere natürlichen Ressourcen plündern, weil die Staatsschulden sie dazu zwingen. Es werden ganze Landstriche geopfert, aus denen Öl, Gas und viele andere Rohstoffe in den Globalen Norden exportiert werden. Der finanzielle Würgegriff ist ein Werkzeug, durch das die ehemaligen Kolonialmächte der G7-Staaten über die von ihnen dominierten Finanzinstitutionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank die alten kolonialen Beziehungen aufrechterhalten.
Louise: Staatsschulden befördern diese neokolonialen Strukturen, da die Länder des Globalen Südens die Schulden gegenüber ausländischen Gläubigern haben und es ihnen nicht erlaubt wird, die Schulden in ihrer eigenen Währung zurückzuzahlen. So müssen sie ihre Ressourcen abbauen und sie auf dem Weltmarkt für US-Dollar oder eine andere hegemonische Währung verkaufen. Erst mit diesen Devisen können sie ihre Schulden abbezahlen. Dazu kommen viele Fälle, in denen Länder über die Gesamtsumme der gezahlten Zinsen bereits mehr als die eigentliche Schuldensumme bezahlt haben und trotzdem weiterhin dazu gezwungen werden, ihren Schuldendienst zu tätigen.
Könnten Länder nicht einfach aufhören, ihre Schulden zu bezahlen?
E: Sie könnten es. Aber niemand will enden wie Thomas Sankara, der als Präsident von Burkina Faso zu einer gemeinsamen Front gegen Staatsschulden aufgerufen hatte und dafür umgebracht wurde. Ich denke, es ist unsere Aufgabe als soziale Bewegung, das Spektrum der Möglichkeiten zu erweitern, öffentlichen Konsens aufzubauen und auf internationaler Ebene den Druck zu erhöhen, so dass mehr Länder in Erwägung ziehen können, ihren Schuldendienst zu unterlassen. Aber es muss eine gemeinsam koordinierte Zahlungsunterlassung sein. Du kennst das Sprichwort: „Wenn Du der Bank eine Million schuldest, steckst Du in Schwierigkeiten. Aber wenn Du der Bank 100 Millionen schuldest, steckt die Bank in Schwierigkeiten“. Das heißt, wenn du das einzige Land bist, das sich weigert, seine Schulden zurückzuzahlen, dann bist du verloren. Du fällst aus dem System heraus und hast keinen Zugang mehr zu finanziellen Mitteln. Aber wenn sich viele Länder zusammentun, dann bringt es das ganze System ins Wanken.
Welche Rolle spielt Deutschland bei all dem?
L: Deutschland ist die viertgrößte Stimmmacht sowohl innerhalb des IWF als auch der Weltbank, zwei der größten Gläubiger weltweit. Deutschland hat also eine sehr mächtige Position in der globalen Wirtschaftsordnung.
Und im Koalitionsvertrag stehen zwei entscheidende Punkte: erstens, die Anerkennung der Dringlichkeit der Schuldenkrise. Und zweitens, die Notwendigkeit, sich mit der eigenen Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen. Dabei ignoriert die Bundesregierung jedoch vollkommen die Fortführung (neo)kolonialer Machtbeziehungen durch ihre Rolle in den genannten Finanzinstituten. Denn anstatt die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte ernsthaft anzugehen und sich für die Entschuldung der Staaten des Globalen Südens einzusetzen, stellt sie immer wieder nur China als Sündenbock hin und entzieht sich ihrer eigenen Verantwortung.
Wie geht ihr als Bewegung gegen diese Probleme vor? Wie sehen eure Aktionen aus?
L: Zum Beispiel waren wir im August 2022 beim Tag der offenen Tür des Finanzministeriums und konfrontierten Christian Lindner. Wir fragten ihn, ob er die Entschuldung des Globalen Südens beim Jahrestreffen des IWF und der Weltbank in Washington fordern würde. Vor unserer laufenden Kamera sagte er einfach: ja. Natürlich hat er das dann in Washington nicht gemacht. Also fragten wir ihn bei seiner Wiederkehr, warum er sein Versprechen nicht eingelöst habe. Er versuchte, unseren Protest zu delegitimieren, indem er fälschlicherweise sagte, er tue ja schon, was wir von ihm fordern. Anscheinend hatten wir aber einen Nerv bei ihm getroffen. Denn mit seinem persönlichen Twitter-Account hat er unsere Aktion geteilt und uns auf diese Weise eine viel größere Sichtbarkeit verschafft. Als nächsten Schritt luden wir ihn ein, um ihm die Chance zu geben, sich gegenüber unseren Mitstreiter*innen aus dem Globalen Süden zu erklären. Natürlich kam er nicht.
Also organisierten wir am 27. Februar diesen Jahres, dem 70. Jahrestag des Schuldenerlasses gegenüber Deutschland 1953, einen globalen Protest. In Deutschland und vor deutschen Botschaften in 25 Ländern starteten wir Aktionen mit einer gemeinsamen Forderung an die Bundesrepublik: die Streichung der Schulden der Staaten des Globalen Südens, welche es dem hoch verschuldeten Nachkriegsdeutschland einst ermöglichten, aus der Schuldenfalle zu kommen und das sogenannte Wirtschaftswunder in Gang zu setzen.
Wie sah dieser Schuldenschnitt aus?
Damals erhielt Deutschland, unter anderem aufgrund der Zustimmung von heute hoch verschuldeten Ländern wie Argentinien, Pakistan, Sri Lanka und Südafrika, einen Erlass von über 50 Prozent der Staatsschulden. Der Erlass galt Krediten aus der Zeit vor, während und nach dem 2. Weltkrieg. Dazu kommt, dass Deutschland seine Schulden in der eigenen Währung zurückzahlen durfte und nie mehr Schulden zahlen musste, als dass es seiner eigenen Wirtschaft geschadet hätte. Keinem der Länder aus dem Globalen Süden wurden solche Konditionen je gewährt. Was auch nicht unerwähnt bleiben darf: Der Verhandlungsführer damals war Hermann Josef Abs, einer der einflussreichsten Banker Nazi-Deutschlands. Unsere Frage ist: Wenn das damals sogar für das Land möglich war, das den Holocaust und den zweiten Weltkrieg zu verantworten hatte, warum können dann heute nicht die Schulden des Globalen Südens gestrichen werden?
Wie wirkt sich die Staatsverschuldung auf die Ernährungssituation und das Leben der ländlichen Bevölkerung aus? Sind Kleinbäuer*innen auch Teil eurer Bewegung?
L: Ja. Zum Beispiel arbeiten wir mit Kleinbäuer*innen und Fischer*innen aus dem Senegal zusammen, die massiv von den Politiken der Weltbank und des IWF betroffen sind. Das Land ist ein perfektes Beispiel dafür, dass Schulden ein Haupttreiber für die anhaltende Förderung fossiler Brennstoffe sind. Die Weltbank und der IWF drängen Senegal dazu, Öl und Gas zu fördern, um mit den eingespielten Devisen ihre Schulden abzubezahlen. Im Zuge dessen werden Kleinbäuer*innen von ihrem Land vertrieben. Fischer*innen verlieren ihre Lebensgrundlage aufgrund von Offshore-Bohrungen.
Debt for Climate versucht daher aufzuzeigen, dass es tatsächlich globale politische Entscheidungsträger*innen sind, die diese extraktivistischen Programme vorantreiben. Gleichzeitig besteht unsere Arbeit darin, Kleinbäuer*innen gegen das Schuldendiktat und für Schuldenstreichungen zu mobilisieren und organisieren. Denn diese sind besonders von den Folgen des Klimawandels und dem schuldengetriebenen Landraub betroffen. Überhaupt sind die Staatsverschuldung und der damit zusammenhängende Zwang, Dollars zu generieren, die treibende Kraft für die kontinuierliche Verdrängung der kleinbäuerlichen und vielfältigen Landwirtschaft zugunsten des monokulturellen Agri-Business und globaler Agrarlieferketten.
Was macht Debt for Climate als Bewegung so besonders?
E: Weißt du, Schulden liegen in der DNA des Globalen Südens. Deswegen ist es für uns sehr wichtig, über ein eigenes Medium zu verfügen, das uns ermöglicht, mit unseren Partner*innen in Europa auf Augenhöhe zu sprechen, anstatt um ihre Unterstützung betteln zu müssen. Debt for Climate ist genau solch ein Medium: Eine Bewegung aus dem Globalen Süden, angeführt von Menschen aus dem Globalen Süden mit unserer Art und Weise, die Dinge zu tun.
Es ist für uns wirklich sehr bestärkend zu wissen, dass unsere Stimmen zählen. Dass unsere Bewegung tatsächlich dabei hilft, strukturellen Wandel voranzutreiben und die Dekolonisierung mit einem ganz konkreten Mandat anzugehen.
Esteban Servat und Louise Wagner sind Teil der Bewegung Debt for Climate, bei der auch das Copyright für die abgedruckten Fotos liegt. Das Interview führte, übersetzte und redigierte Jan Dreier.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem neuen FoodFirst, das FIAN-Mitgliedermagazin. Sie sind neugierig auf weitere spannende Artikel geworden? Das FoodFirst-Magazin können Sie hier abonnieren. Oder sichern Sie sich ein kostenloses Probeexemplar in gedruckter Form. Schreiben Sie einfach eine E-Mail an info@fian.de.
Artikel als PDF: „Schulden liegen in der DNA des Globalen Südens“