In seiner fünfjährigen Fact-Finding-Mission nach Südamerika dokumentierte der große Naturforscher die Lebensweise der Indigenen und setzte sich zeitlebens für deren Gleichberechtigung ein. Wer diesem Interview nicht glaubt, lese „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ von Andrea Wulf.
Herr von Humboldt, FIAN gratuliert Ihnen zum 250. Geburtstag!
Oh, es wird wieder viel geschrieben über mich. Ja, es war der 14. September 1769.
Was fällt Ihnen heute an der Menschheit am meisten auf?
Es gibt nach so enormem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt immer noch viele Menschen, die hungern. Das ist ein Skandal.
Was gefällt Ihnen an FIAN?
Hätte ich nicht eine gewisse Altersgrenze überschritten (räusper), ich wäre längst beigetreten. Als Spender komme ich auch nicht mehr in Betracht, denn ich habe mein üppiges Erbe zu Lebzeiten voll aufgebraucht. Zum Beispiel bei meiner Südamerikareise 1799 bis 1804. Ich glaube, Sie nennen das heute Fact-Finding-Mission. Was Sie heute als Teamwork propagieren, das habe ich bei meinen Forschungsreisen übrigens auch schon gemacht: Ich bin immer in Teams unterwegs gewesen, habe mir Einheimische als Partner gesucht.
Ist es nicht Zeit für eine Revolution?
Ach wissen Sie, ich habe so viele Revolutionen miterlebt, die haben es alle nicht richtig gebracht. Thomas Jefferson, den US-Präsidenten, habe ich angehauen, dass er die Abschaffung der Sklaverei in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung aufnimmt, aber er hat sich den Plantagenbesitzern gebeugt. Die französische Revolution, sie hat Gewalt und Menschenrechtsverletzungen hervorgebracht. Mit Simón Bolívar bin ich durch die Toskana und nach Rom gereist, er hat auch das eine oder andere meiner Ideen übernommen, aber er hat sich in Venezuela und Bolivien nachher in blutigen Bürgerkriegen verzettelt und wurde wie Napoleon zum Diktator. Von der 1848er Revolution in Deutschland will ich lieber gar nicht reden, das war nur frustrierend.
Was sagen Sie zur kleinbäuerlichen Landwirtschaft?
Das ist immer noch ein Thema für Sie? Ich habe schon 1808 darauf hingewiesen, dass Ureinwohner in der Regel gute Sachwalter der natürlichen Ressourcen sind. Die Indigenen waren weder Barbaren noch Wilde! Es ist sinnvoll, wenn kleinbäuerliche Betriebe zunächst mal für den heimischen regionalen Bedarf produzieren, darüber war ich mir mit Thomas Jefferson einig. In Venezuela hungerte die Bevölkerung, nachdem Indigo als Cash Crop den Mais und andere Nahrungsmittel verdrängt hatte. Sie müssen wissen, Indigo „erschöpft den Boden“ mehr als jede andere Pflanze. In Kuba sah ich, dass große Teile des Landes abgeholzt waren für Zuckerrohr und andere Plantagen. Ich musste erkennen, „ohne Importe aus anderen Kolonien verhungert Kuba“.
Wie standen Sie zum Kolonialismus in Südamerika?
Eine Katastrophe für Mensch und Umwelt. Die Spanier waren gekommen, um sich Silber, Gold und Holz zu holen, „durch Gewalt und Tauschhandel“, und waren getrieben von „unersättlicher Habsucht“. Die Kolonien konnten nur frei und autark werden, wenn sie von den „Banden des gehässigen Monopols“ und der „europäischen Grausamkeit“ erlöst wurden. Die Landverteilung war ungerecht. In den Bergwerken gab es Ausbeutung, und es gab viel Gewalt gegen indigene Gruppen. Schauen Sie: Ich habe 1808 bis 1811 in mehreren Bänden Studien zum politischen Zustand des Königreichs Neuspanien und später zu Kuba verfasst. Simón Bolívar hat daraus seine Argumente für die Befreiungsbewegung gezogen. Ich hatte gehofft, mit der Studie die US-Amerikaner dazu zu bringen, dass sie den Freiheitskampf im Süden unterstützen. Die vielen Daten und wirtschaftlichen und militärischen Informationen darin haben sie gerne genommen, aber sie wollten keine vereinigte und mit ihnen konkurrierende Nation auf dem südamerikanischen Kontinent entstehen lassen. Und weiter ihr Getreide nach Südamerika exportieren.
Sie waren also der Ideengeber für die Befreiungsbewegung.
Es wurde behauptet, Simón Bolívar habe im Guerillakampf sogar mein Kartenmaterial verwendet. Sicher ist, dass er die Schönheit und die Bedeutung der natürlichen Ressourcen für die Entwicklung durch mich verstanden hat. In Bolivien hat er eine Million Bäume pflanzen lassen. Ich habe das alles aus der Distanz beobachtet. Mein Freund und Teamkollege Aimé Bonpland betätigte sich als Lieferant von Büchern, einer Druckerpresse und Waffen. Er scheute sich aber, am brutalen Befreiungskrieg teilzunehmen.
Dann sind sie also deswegen in Südamerika immer noch so bekannt. Aber Indien haben Sie bei Ihren Weltreisen ausgelassen?
Die Ostindische Compagnie hat mich nicht reingelassen, obwohl viele Promis sich dafür stark gemacht hatten. Aber ich habe zu sehr die koloniale Ausbeutung und die damit einhergehende Waldabholzung und daraus folgende Bodenerosion kritisiert. Auch meine Reise nach Sibirien gewährte der Zar nur mit Auflagen, die ich total unmöglich fand. Mich interessierten nun mal die sozialen Verhältnisse, in denen die Menschen zusammen leben, ebenso wie die Tiere und Pflanzenarten. Davon wollten meine Auftraggeber nichts wissen.
Sie haben dem Zaren unterschrieben, dass Sie das russische Feudalsystem nicht kritisieren werden?
Kein Wort durfte ich zur Leibeigenschaft sagen! Ich wurde auf Schritt und Tritt quasi wie ein Kranker überwacht. Aber ich habe ein paar Verbannte getroffen und später den Zaren gebeten, sie zu begnadigen.
Freuen Sie sich, dass 2019 in Berlin ein Humboldt-Forum eröffnet wird?
Klar, Berlin braucht eine weltläufige, kosmopolitische Einrichtung, zumal angesichts der nationalistischen Tendenzen jetzt in Ihrer Zeit. Allerdings: Das Ausstellungskonzept mit der kolonialen Beutekunst, naja, wurden die früheren Besitzer dazu befragt? Krass finde ich die Fassade, die dem Stadtschloss der preußischen Monarchie nachempfunden ist. Das ist völlig gegen mein Lebensempfinden und das Konzept reduziert mich auf den Naturforscher. Ich war alles Andere als ein braver Pflanzensammler. Wirklich im Reinen war ich mit dem absolutistischen Regime nie, ich war für die Demokratie.
Sie haben als Kammerherr dem König aus Ihren Werken vorgelesen und jedes Jahr 2500 Taler Pension kassiert.
Nerven Sie mich nicht. Ich stand voll zwischen den Fronten. Den einen Tag stand ich 1848 beim König auf dem Balkon in seinem Stadtschloss, den andern Tag marschierte ich an der Spitze des Trauerzugs für die gefallenen Revolutionäre. Von den aufrührerischen Massen habe ich nichts gehalten, von den brutalen Polizeieinsätzen aber auch nichts. Ich wollte damals ein vereinigtes Deutschland, wie so viele andere auch, und zwar ein föderalistisches.
Welche Bilanz ziehen Sie nach Ihrem langen und bewegten Leben?
Ich hege die schale Hoffnung, dass der Wunsch nach Veränderung nicht für immer verschwunden ist. Dieses Verlangen ist „ewig wie der elektromagnetische Sturm, den die Sonne ausstrahlt.“
Interview: Johannes Brandstäter (FIAN)