Hannah Perry war für drei Monate als Teilnehmerin des Programms EAPPI (Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel) im Westjordanland. Sie schildert einige Eindrücke, die sie als internationale Beobachterin gewinnen konnte. Das Gespräch führte die ehemalige FIAN-Geschäftsführerin Britta Schweighöfer, die vor einigen Jahren ebenfalls für EAPPI vor Ort war.
Hannah, Du bist seit kurzer Zeit aus dem Westjordanland zurück. Wo genau warst Du und was war Deine Aufgabe dort?
Mein Hauptstandort war Bethlehem. Eine der Grundideen des Programms ist eigentlich die schützende Präsenz. Das heißt, als Freiwillige begleite ich Palästinenser*innen im Alltag. Dazu gehört zum Beispiel die Begleitung von Kindern auf dem Schulweg oder von Schäfern. Jetzt war die Gesamtsituation aber so angespannt, dass wir etwas andere Schwerpunkte setzen mussten. Wir haben sehr viel dokumentiert, da wo wir von Menschenrechtsverletzungen oder gewalttätigen Zwischenfällen erfahren oder sie selbst gesehen haben. Und wir haben viel Solidaritätsarbeit gemacht.
Wie kann man sich das vorstellen? Wie sieht denn eine „normale“ Freiwilligenwoche aus?
Wir haben etwa 15 Dörfer rund um Bethlehem regelmäßig besucht. Orte, an denen es häufig Konflikte zwischen Palästinenser*innen und Siedler*innen oder auch dem israelischen Militär gab. Vielleicht fünf davon wirklich jede Woche und die anderen so alle zwei bis drei Wochen. Um zu zeigen, dass es eine internationale Präsenz gibt. Wir sind auch Berichten von anderen nachgegangen, haben Situationen nachrecherchiert oder Leute gezielt besucht. Zum Beispiel waren wir in Al Walaja, wo ein Haus durch die israelische Armee abgerissen wurde. Die Begründung für solche Abrisse ist fast immer „illegaler Bau“. Gleichzeitig ist es für Palästinenser*innen im Westjordanland nahezu unmöglich, eine Baugenehmigung zu erhalten. Ein solcher Abriss ist ein sehr gewalttätiger Anblick: riesige Bagger mit überdimensionalen Bohrern, die das Haus zerstören. Während des Abrisses kam es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen einem der Hausbesitzer und dem Militär. Am Tag danach war vor Ort noch Blut zu sehen und die Familie stand unter Schock. In Al Walaja wurden allein 2024 mehr als 20 Gebäude abgerissen und über 90 Menschen haben ihr Zuhause verloren.
Bringt es dann etwas, solche Ereignisse zu dokumentieren?
Nun, zum einen braucht es Dokumentation als Grundlage jeglicher Lobbyarbeit. Aber es gibt natürlich unterschiedliche Stimmen dazu. Wir fragen die Menschen immer, ob und was wir aufschreiben und veröffentlichen dürfen. Da hört man schon auch den Kommentar „Veröffentlichen dürft ihr es gerne, nur hilft uns das nicht“. Andere sagen aber, dass sie sehr froh über internationale Präsenz sind und dass sie dadurch „auf die Landkarte kommen“. Das haben wir vor allem in den kleinen Orten gehört. Jeder weiß, wo Bethlehem ist, aber wer kennt schon Al Walaja?
Welchen Eindruck hast Du von der wirtschaftlichen Situation? Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober und dem Beginn des aktuellen Gaza-Krieges haben viele Menschen im Westjordanland ihre Einkommensquelle verloren. War das spürbar?
Auf jeden Fall. Zum einen sieht man es ganz konkret am bekannten „Checkpoint 300“: Früher wurde der Checkpoint um vier Uhr morgens geöffnet und es gab täglich etwa 15.000 Passagen, also Palästinenser, die eine Arbeitserlaubnis in Israel hatten. Damals hat EAPPI dort täglich Monitoring gemacht. Jetzt öffnet der Checkpoint erst um sechs Uhr morgens, wir waren nur zweimal die Woche dort und haben zum Beispiel am Sonntag, also zu Beginn der Arbeitswoche, lediglich 600 Passagen gezählt. Auch in Bethlehem merkt man deutlich, dass der Tourismus fehlt. Die Stadt ist leer, die Geburtskirche konnten wir jederzeit betreten, ohne Schlange zu stehen. Diese Einnahmen fehlen natürlich auch.
Wie kommen die Menschen denn überhaupt über die Runden?
Der Export funktioniert noch in begrenztem Umfang. Souvenirs zum Beispiel oder auch Glas- und Tonwaren. Zentral ist aber, dass die Palästinenser*innen in Großfamilien vernetzt wirtschaften. Wer noch Arbeit hat, unterstützt die Familien der Geschwister oder Cousins, die Eltern, die Großeltern. Auch die Subsistenzlandwirtschaft hat zugenommen. Jede Familie ist irgendwo auch landwirtschaftlich tätig. Aber es gibt neue Probleme, denn der Zugang zum eigenen Land ist vielerorts schwieriger geworden. Wir haben Menschen getroffen, die zwar gesunde Olivenbäume oder Weinstöcke haben, aber nicht mehr auf ihr Land kommen. Neue Checkpoints oder Konflikte mit Siedlern oder dem Militär machen das unmöglich.
Auch Wasser ist ein Riesenproblem. Die Wasserzufuhr für das Westjordanland wird von Israel aus kontrolliert und beispielsweise in Al Walaja erhalten die Palästinenser*innen nur noch 40 Prozent der Menge, die sie vor dem 7. Oktober 2023 hatten. Das schränkt die Landwirtschaft enorm ein. Tragischerweise sieht man von dort aus direkt auf ein großes Aquarium, ein riesiges Wasserbecken. Es steht auf der israelischen Seite. Die Leute haben ständig vor Augen, dass es Wasser gibt.
Du hast erwähnt, dass ihr auch viel Solidaritätsarbeit gemacht habt. Was heißt das konkret?
Es gab zum Beispiel zwei Frauengruppen, die wir regelmäßig besucht haben. Das hat mich am Anfang nervös gemacht, weil ich immer dachte, wir müssten mehr tun. Die Frauen „nur“ zu besuchen, das reicht nicht. Sie haben das anders gesehen. Sie finden es wertvoll, dass wir uns Zeit nehmen, einfach da sind, an ihrem Leben und Alltag teilhaben. Es ist auch wichtig zu zeigen, dass wir Menschen sind, die anders denken als das, was sie über oder von unseren Regierungen hören. Zeit ist kostbar. Ich habe eine Weile gebraucht, um das zu verstehen.
Ein Ort, den wir oft besucht haben, ist das „Tent of Nations“. Der Familienbetrieb ist bekannt unter dem Stichwort „Wir weigern uns, Feinde zu sein“. Es ist ein Ort des Austausches, der Bildung und der praktischen (Mit-)Arbeit. Wir haben unter anderem Kakteensetzlinge gepflanzt, die eine Hecke bilden werden. In diesem Rahmen hatten wir auch viel Kontakt zu anderen Freiwilligen und zu israelischen Organisationen. Das ist ein wertvoller Austausch.
Was kannst du zur Zusammenarbeit zwischen palästinensischen und israelischen Aktivist*innen oder Organisationen berichten?
Es gibt positive Beispiele. Gerade in Bethlehem und in Jerusalem ist man ja sehr nah beieinander. Bei Beit Jala, ein paar Kilometer von Bethlehem, kämpft eine christlich-palästinensische Familie um ihr Land. Der Zugang wird immer wieder durch Siedler*innen eingeschränkt und ihre Landrechte werden angefochten. Es ist einer von hunderten Landkonflikten mit einer langen Vorgeschichte. An diesem Ort gab es zum Beispiel eine Zusammenarbeit mit den Combatants for Peace. Ehrlicherweise muss man sagen, dass diese Kooperationen nicht konfliktfrei sind. Wie sollten sie auch? Die Nerven liegen bei allen blank. Ein Waffenstillstand in Gaza hat oberste Priorität. Für viele ist es in der aktuellen Situation schwierig, darüber hinaus längerfristige strategische Partnerschaften aufzubauen. Manchmal ist es emotional einfach zu viel.
Last but not least: Konntest du in deiner Freizeit irgend etwas unternehmen?
Ja und nein. Aus Sicherheitsgründen waren wir eingeschränkt und sind wenig im Land herumgekommen. Umso mehr habe ich die Zeit mit der Laufgruppe Right to Movement genossen. Sie organisieren unter anderem den Bethlehem Marathon. Ich habe dort viele interessante und sehr weltoffene Palästinenser*innen kennengelernt. „Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.“ Das ist ein Teil der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. In Bethlehem stößt man in jeder Himmelsrichtung irgendwo auf die Trennbarriere und hat immer vor Augen, wie eingeschränkt die Bewegungsfreiheit ist. Laufen ist Freizeit und politisches Engagement zugleich.
Wie geht es weiter nachdem Du jetzt wieder in Deutschland bist?
Es gehört zum Programm, dass ich mich jetzt an der Öffentlichkeitsarbeit zu Menschenrechten in Palästina und Israel beteilige. Zum Beispiel durch Vorträge oder direkte Ansprache von Parlamentarier*innen. Ich bin gespannt darauf, wie das in Deutschland so läuft. Als Engländerin bin ich es gewohnt, für mein Empfinden ganz „normal“ über Palästina zu sprechen. In Deutschland ist das alles viel sensibler. Außerdem möchte ich versuchen, aus meiner typischen Blase herauszukommen. Nächstes Jahr werde ich einige Orgelkonzerte geben. Bis dahin möchte ich ein Stück zu Palästina schreiben. Das gibt mir dann die Möglichkeit, auf das Thema aufmerksam zu machen und ganz andere Leute zu erreichen, die wegen Bach gekommen sind.
Mehr Informationen zum Programm: www.eappi-netzwerk.de/begleitperson-werden. Der nächste Bewerbungsschluss ist am 11. Mai 2025.