In seinen nationalen Beiträgen (NDCs) zum Pariser Abkommen hat sich Indien dazu verpflichtet, Kohlenstoffsenken von 2,5 bis 3 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalenten durch zusätzliche Wald- und Baumbestände zu schaffen. Nach außen hin stellt sich Indien damit als glänzende Naturschützerin dar. Dabei ist der Naturschutz nur ein Alibi – denn in erster Linie ist die Aufforstung ein doppelt lukratives Geschäft: zum einen generieren die neuen Wälder Profit in Form von CO2-Zertifikaten, zum anderen dienen sie als Handelsgüter auf dem weltweiten Holzmarkt. Gleichzeitig ermöglichen es die Kompensationsaufforstungen, primäre Waldfläche zugunsten von Industrie, Bergbau und anderen profitbringenden Projekten zu roden. Damit wird der Wald zum Herzstück des indischen Kapitalismus – und dies zu Lasten der Gemeinschaften, die diese Gebiete traditionell bewirtschaften. Diese sind der kommerziellen Aneignung der Wälder ein Klotz am Bein. In der Zange zwischen profitgetriebener Naturzerstörung und ökoimperialistischem Naturschutz werden die demokratischen Rechte der waldsiedelnden Bevölkerung zunehmend gegen die Wand gefahren – eine Situation, die heute nicht viel anders ist als im kolonialen Indien des 19. Jahrhunderts.
2016 und 2017 brach Indien gleich zwei Weltrekorde in Folge: erst 800.000, dann 1,5 Millionen Freiwillige trommelte die Regierung zusammen, um gemeinsam Baumsetzlinge zu pflanzen. Vor dem Hintergrund des Pariser Klimarahmenabkommens, bei dem die indische Regierung beteuert hatte, rund 6,2 Milliarden Dollar für Aufforstungungen bereitstellen zu wollen, sollten diese spektakulären Happenings eine weltweite Botschaft versenden: das Zeitalter der Sünde sei vorbei, und man habe sich nun endlich der Mission des Umweltschutzes verschrieben. Rund 33 % seiner Landfläche wolle man dafür bis 2030 mit kohlenstoffbindender Waldfläche überdecken – dies wäre ein Zuwachs von beinahe 12 %.
Auch wenn es sich dabei um monokulturelle Aufforstungen handelt, die mitnichten mit der klimatischen Bedeutung natürlicher Wälder mithalten können, erschien diese Ankündigung auf den ersten Blick wie eine Atempause für Mensch und Natur – insbesondere für Indiens etwa 250 millionenköpfige Waldbevölkerung (forest dwellers), für die Wälder einen unveräußerlichen Lebens-, Kultur- und Identifikationsraum darstellen. Im Zuge der Industrialisierung, für die zahllose Waldstriche dem Erdboden gleich gemacht worden waren, mussten nämlich viele Waldsiedelnde ihre angestammte Heimat ohne angemessene Entschädigungen verlassen (lt. Schätzungen wurden innerhalb von 50 Jahren rund 50 Millionen Menschen für „Entwicklungsprojekte“ vertrieben; aktuelle Beispiele sind Narmada und JUSL). Viele von ihnen waren Adivasis oder „erste Bewohner“ (1) – traditionelle indigene Gemeinschaften, die sich in Folge der indo-europäischen Einwanderung um 1500 v. Chr. in entlegene Wald- und Berggebiete zurückzogen und dort viele ihrer traditionellen Lebensformen bewahren konnten. Besonders für sie könnte der Kurswechsel zu mehr Wald- und Naturschutz auf den ersten Blick von vorrangiger Bedeutung sein.
Aber was grünlich schimmert, hat einen langen und menschenverachtenden Schatten: Die „Aufgrünung“, die Indien im Rahmen dieses massiven Aufforstungsprogrammes vorantreibt, ist nicht dem Allgemeinwohl, sondern der wirtschaftlichen Rentabilität verpflichtet. Und diese bestimmt, was schützenswert ist und was nicht. Während komplexe Waldökosysteme (und jene, die von und in ihnen leben) ungeachtet der grünen Selbstpräsentation weiterhin dem Industriehunger zum Opfer fallen – über 20.000 Hektar hat die indische Regierung zwischen 2015 und 2018 zur Rodung zugunsten großer Industrieprojekte freigegeben – werden neue Kunstwälder aufgezogen, die als Patentlösung für die eigenen Klimaschutzziele dienen sollen. Denn anders als „unproduktive“ Wälder, heißt es, würden durch kommerziell verwertbare Harthölzer wie Eukalyptus und Teakholz wirtschaftliche Anreize geschaffen, die Natur zu bewahren. Der indische Staat trete dabei als aufgeklärter Patron hervor, der diese „neue Wildnis“ – und seine daran ausgerichteten Kapitalinteressen – vor der Zerstörungskraft des wildernden Menschen schützen müsse. Im antagonistischen Gefecht zwischen „Natur“ und Mensch können bewaldete Regionen nämlich nur dann in voller Produktivität – und damit ihrer eigenen Erhaltung – aufgehen, wenn sie von allen Spuren menschlicher Besiedelung bereinigt würden. Auch zum Preis von Menschenrechten und Demokratie.
Koloniale Kontinuität
Das Bild einer Natur, die der Barbarei des Menschen wehrlos unterlegen sei und somit nur durch eine höhere Instanz bewahrt werden könne, ist dabei nicht neu, sondern knüpft unmittelbar an vergangene koloniale Narrative an. Schon die britische Kolonialregierung hatte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts einer solchen Polarisierung von Gesellschaft und (kapitalistisch produzierter) Natur bedient, um ganze Landstriche unter ihren Besitz zu bringen und deren Verwaltung drakonisch zu zentralisieren. Die soziale Dimension von Wald als wichtigem Lebens-, Wirtschafts- und Kulturraum, einschließlich der darin angestammten Gemeinden, wurde vollständig ignoriert. Den waldsiedelnden Menschen wurden unter dem Vorwurf, nichts als intrudierende Nutznießer*innen zu sein, ihre Wohn- und Nutzungsrechte entzogen. Dutzende Millionen Menschen wurden gewaltsam vertrieben, um Platz für die kommerzielle Inwertsetzung der Waldlandschaften zu schaffen. Die Rechte der Waldstämmigen wurden dabei dem „nationalen Interesse“ des Naturschutzes unterworfen – wobei die Waldstämmigen dabei implizit davon ausgenommen wurden, selbst ein Teil des Nationalstaates zu sein.
Diese Praxis zentralisierter Umweltpolitik wurde dann im postkolonialen Indien nahezu nahtlos fortgeführt. Mit an der Speerspitze standen nun zunehmend nationalistisch ausgerichtete Umweltverbände, die die Einrichtung von menschenleeren Natur- und Wildreservaten zu Gunsten der Erholung urbaner Eliten forcierten. Auch hier war die Bilanz für waldstämmige Gemeinschaften, die diese naturromantischen Vorstellungen durchkreuzten, nicht minder unbarmherzig.
Dann kam eine entscheidende Wende: nach jahrelangem Drängen waldrechtlicher Bewegungen wurde 2006 der Forest Rights Act beschlossen. Dieser sollte für der historische Ungerechtigkeit gegenüber den Waldstämmigen Rechnung tragen und ihr Rechte auf selbstbestimmte Verwaltung ihrer traditionellen Ländereien anerkennen. Die Bedeutung des Gesetzes war revolutionär: erstmalig hatten die Betroffenen Mittel, um sich gegenüber der Bedrohung seitens wirtschaftlicher und umweltkonservatoristischer Interessen zu wehren. Obwohl am Vorabend der Verabschiedung mehrere Verfahren von selbsternannten Wald- und Naturschützer*innen eingeleitet wurden, konnte der Erlass aber nicht verhindert werden. Jedoch sorgte die Apathie des bürokratischen Apparates dafür, dass eine ordnungsgemäße Umsetzung des Gesetzes bis dato so gut wie gänzlich ausblieb.
Neues Forstgesetz
Zum Entsetzen aller, die jahrelang für Waldrechte gekämpft hatten, trat nun ein vernichtender Rückschritt ein: im März 2019 legte die indische Regierung einen Änderungsentwurf vor, der den Ermessensspielraum des kolonialen Forstgesetzes von 1927 massiv ausweiten und der Staatsmacht quasi absolute Macht über die Waldgebiete zugestehen soll. In seiner vorliegenden Form würde das Gesetz die Teilhaberechte der waldansässigen Bevölkerung nahezu vollständig aushebeln und damit der weiteren Kommerzialisierung der verbliebenen Primärwälder – auch über den vermeintlich wohlwollenden Aufforstungsmechanismus – freie Fahrt erteilen. Zusätzlich würde dem Staat unter einem „Sonderbefugnisgesetz“ (special powers act) die Freiheit verliehen, die zur Konservierung eingezäunten Land- und Waldstriche polizeilich und militärisch abzusichern – mitsamt der Erlaubnis, auf mögliche „Eindringlinge“ zu schießen.
Der Feldzug von Staat, multinationalen Konzernen und bourgeoisen Umweltverbänden gegen die waldsiedelnde Bevölkerung trägt aber schon jetzt seine Früchte: erst zu Beginn des Jahres hatte es die Regierung versäumt, die im Forest Rights Act anerkannten Rechte von rund acht Millionen Waldsiedelnden zu schützen. Diesen war in einer Klage dreier Umweltschutzverbände vorgeworfen worden, „illegale Waldeindringlinge“ zu sein – womit sie der Gefahr unterliegen, ihre gesamten Lebensgrundlagen entzogen zu bekommen. Auch wenn Untersuchungen der letzten zehn Jahre keinerlei Aufschluss über Waldzerstörungen durch Indigene und Waldstämmige aufzeigten – im Gegenteil, sie gelten sogar als vorrangige Bewahrer*innen des Waldes – behaupteten die Umweltverbände, dass von den waldsiedelnden Menschen eine hohe Bedrohung für Waldökosysteme und die darin lebenden Wildtiere ausginge. Dieser gelte es durch ihre Versetzung dringend entgegen zu treten. Trotz mangelnder Beweise lenkte der oberste Gerichtshof auffällig eifrig ein und ordnete am 13. Februar an, die betroffenen Naturschutzgebiete von den „illegalen Nutznießer*innen“ zu räumen. Mit Schuldgefühlen, ihre menschenrechtliche Schutzpflicht in Bezug auf den Forest Rights Act massiv verletzt zu haben, musste sich die indische Regierung hierbei nicht lange plagen: Zur Anhörung, die über das Schicksal von rund 8 Millionen Menschen bestimmte, erschien nicht eine einzige Regierungsanwält*in. Obwohl die Gegenklage einer breiten Opposition die Zwangsräumungen zumindest fürs Erste aussetzen konnte, zeichnet sich eine gefährliche Entwicklung ab: immer mehr werden in Indien Natur und Mensch vor dem Primat des freien Marktes gegeneinander ausgespielt und grundlegende demokratische Rechte systematisch untergraben (von Alice Rogovoy).