In Kambodscha haben Millionen Menschen einen Mikrokredit aufgenommen. Viele Betroffene sind überschuldet und von Landverlust bedroht. Hiervon profitieren auch deutsche Investoren. Unsere Interviewpartnerin Naly Pilorge ist Direktorin der Cambodian League for the Promotion and Defense of Human Rights (LICADHO). Bei LICADHO arbeitet sie seit 18 Jahren zu Menschenrechten in Kambodscha und kooperiert hierbei eng mit FIAN. Pilorge fordert die deutsche Entwicklungszusammenarbeit auf, zu handeln und in Sachen Menschenrechtsverletzungen im Mikrofinanzsektor Verantwortung zu übernehmen.
Der Mikrofinanzsektor in Kambodscha steht seit einigen Jahren in der Kritik. Warum?
Kambodschaner* innen haben pro Kopf die höchsten Mikrokreditschulden in der Welt. Die durchschnittliche Kredithöhe liegt bei über 5.000 US-Dollar, mehr als das Jahreseinkommen von 95 Prozent der Bevölkerung. Der Großteil dieser Kleinkredite ist mit den Landtiteln der Kreditnehmer* innen besichert, was deren Häuser, Felder und Lebensgrundlagen bedroht. Gleichzeitig rangiert Kambodscha im Hinblick auf den Kund*innenschutz in diesem Sektor weltweit auf den hinteren Plätzen. Auch Korruption ist weit verbreitet, und um Rechtsstaatlichkeit ist es im Land schlecht bestellt.
Was sind die Folgen?
Die Kombination aus enorm hohen Mikrokrediten und Zinsen, profitgierigen Mikrofinanz-Institutionen (MFIs) und Banken, rücksichtslosen Investoren und fehlendem Schutz für die Kreditnehmer* innen ergibt eine gefährliche Mischung. In den letzten Jahren stellten mehrere Berichte fest: Mikrokreditschulden führen zu erzwungenen Landverkäufen, schuldengetriebener Migration, Kinderarbeit und Hunger.
Welche Rolle spielt hierbei die deutsche Entwicklungszusammenarbeit?
Die deutsche Regierung hat dutzende Millionen Euro in kambodschanische MFIs gesteckt und damit die rasante Expansion des Sektors finanziert, ohne angemessene Sorgfaltsprüfungen durchzuführen. Diese Investitionen richten in Kambodscha unglaublichen Schaden an, während sie der Bundesregierung Gewinne bescheren. Deutschland muss endlich Maßnahmen einleiten, um den Kreditnehmer* innen, die unter diesen räuberischen Kreditpraktiken gelitten haben, zu helfen und Wiedergutmachung zu leisten.
Wie haben das BMZ und die bundeseigenen Entwicklungsbanken KfW und DEG zu der Entwicklung beigetragen?
Die KfW ist an Amret, einer der größten MFI in Kambodscha, über dessen größten Anteilseigner Advans SA beteiligt. Sowohl die KfW als auch das BMZ finanzieren über den Fonds Microfinance Enhancement Facility (MEF) kambodschanische MFIs mit mehreren Millionen Dollar. Die KfW ist zudem Gründungsaktionär des Fonds Microfinance Initiative For Asia (MIFA), der ebenfalls in mehrere kambodschanische MFI investiert. Seit 2018 hat auch die KfW-Tochter DEG mindestens 75 Millionen US-Dollar in den Sektor investiert. Darunter sind 45 Millionen US-Dollar, die genehmigt wurden, nachdem LICADHO und andere kambodschanische NGOs seit August 2019 wiederholt öffentlich auf Menschenrechtsverletzungen im Mikrofinanzsektor hingewiesen hatten.
Was fordern Sie von der deutschen Entwicklungszusammenarbeit?
Kurzfristig müsste die deutsche Regierung einen Entschuldungsfonds einrichten und Wiedergutmachungen für geschädigte Kreditnehmer* innen bereitstellen. So könnte die Anzahl der Landverkäufe und Menschenrechtsverletzungen, die aus Investitionen deutscher Steuergelder resultieren, begrenzt werden. Längerfristig sollte die Bundesregierung ihren Einfluss auf die von ihr (mit-)finanzierten MFI nutzen, um rücksichtslose Kreditpraktiken zu unterbinden und den Einsatz von Landtiteln als Sicherheit für Mikrokredite zu beenden.
Würde das den Sektor verändern?
Natürlich ist die deutsche Regierung nicht der einzige Akteur, und sie kann nicht alle Probleme lösen. Aber sie muss Verantwortung übernehmen und die Schäden wiedergutmachen, die durch ihre Investitionen entstanden sind. Verantwortung zu übernehmen würde auch als Beispiel für andere Investoren dienen. Das INEF (Institut für Entwicklung und Frieden) hat kürzlich eine vom BMZ finanzierte Studie veröffentlicht.
Was halten Sie von deren Ergebnissen und Empfehlungen?
Die INEF-Studie war längst überfällig. Der richtige Zeitpunkt für die Untersuchung wäre vor fünf Jahren gewesen, als das BMZ bereits zahlreiche Hinweise auf gravierende Probleme im kambodschanischen Mikrofinanzsektor hatte. Wir glauben, dass die Studie die Landverkäufe eher zurückhaltend eingeschätzt hat. Nicht alle interviewten Kreditnehmer* innen wurden gefragt, ob sie Land verkauft haben, um Schulden zurückzuzahlen. Daher ist es wahrscheinlich, dass die schuldengetriebenen Landverkäufe noch höher liegen. Doch selbst, wenn man nur die Zahlen der INEF-Studie zugrunde legt, wird klar, dass es massive Probleme im Mikrofinanzsektor gibt, die angegangen werden müssen.
In Ihren Berichten kommen Sie zu dem Schluss, dass die Menschenrechtsverletzungen systematisch sind. Das BMZ hat hierauf geantwortet, es handele sich um Einzelfälle. Was sagen Sie dazu?
Wer behauptet, es handele sich um Einzelfälle einiger schlechter Akteure, liegt falsch. Die INEF-Studie geht von fast 100 erzwungenen Landverkäufen pro Tag in den letzten fünf Jahren aus. Das bedeutet, dass alle 16 Minuten Land verkauft wird; insgesamt 167.000 Landverkäufe seit 2017 – nur um Mikrokredite zu begleichen! Wir haben räuberische Kreditpraktiken und Menschenrechtsverletzungen in mehr als einem Dutzend Provinzen in Kambodscha dokumentiert, an denen alle großen Mikrofinanzkreditgeber des Landes beteiligt sind. Dies ist ganz klar ein systematisches Problem.
Was erwarten Sie von den beteiligten staatlichen Investoren?
Wir erwarten von staatlichen Entwicklungsinstitutionen und Banken wie dem BMZ und der KfW, dass sie sich stärker für Menschenrechte einsetzen, wie in ihren Richtlinien vorgeschrieben. Leider mussten wir feststellen, dass diese Richtlinien zwar auf dem Papier existieren, aber bei den Investitionsentscheidungen nicht immer angewandt werden. Die INEF-Studie hat zur Aufmerksamkeit des BMZ und der KfW für die Probleme im Sektor geführt, doch es mangelt weiterhin an der Bereitschaft, diese anhaltende Katastrophe anzugehen.
Wie sehen Sie das Engagement von privaten Investoren wie Oikocredit? Arbeiten Sie anders als die Akteure der Entwicklungszusammenarbeit?
Jeder Investor trägt zu diesen Missständen bei, und jeder Investor hat die Verantwortung, schädliche Investitionen zu stoppen und den betroffenen Kreditnehmer* innen Wiedergutmachung zu leisten. Vor kurzem hat auch die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) Investitionen in Höhe von 175 Millionen US-Dollar in den kambodschanischen Mikrofinanzsektor genehmigt.
Wie beurteilen Sie dieses Engagement?
Es ist beunruhigend, dass die AIIB diese Investitionen trotz jahrelanger Berichterstattung über die Missstände in diesem Sektor vorschlägt. Deutschland ist einer der größten Anteilseigner der Bank. Wir arbeiten mit mehreren Partnern, darunter auch FIAN, zusammen, um sicherzustellen, dass die Landtitel an die Kreditnehmer* innen zurückgegeben und die Schäden behoben werden, bevor weitere Investitionen in den Sektor getätigt werden. Die AIIB-Darlehen sind noch nicht ausgezahlt worden und wir drängen weiter darauf, dass Schutz der Kund*innen gestärkt und gewährleistet ist, bevor neue Investitionen getätigt werden.
Wie können Mikrokredite in Kambodscha auf sinnvolle und faire Weise vergeben werden und den Kreditsuchenden wirklich helfen?
LICADHO arbeitet nicht zu finanzieller Inklusion, sondern ist eine Menschenrechtsorganisation. Wir wollen, dass alle Institutionen die Menschenrechte jeder/s Kambodschaners/ in respektieren. Das schließt MFIs und ihre Investoren mit ein. Ein gut funktionierender MFI-Sektor ist einer, der die Kreditnehmer* innen nicht so weit überschuldet, dass sie gezwungen sind, ihr Land zu verkaufen, zu hungern oder zu migrieren, um ihre Kredite zurückzuzahlen.
Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Raphael Göpel. Der Originalbeitrag erschien am 16. März 2023 in der Ausgabe „Entwicklung für wen?“ des Online-Magazins südostasien (suedostasien.net) und wurde für FoodFirst leicht gekürzt und redaktionell angepasst. Raphael Göpel arbeitet bei der Stiftung Asienhaus zu Kambodscha und Indonesien. Bei FIAN Deutschland engagiert er sich ehrenamtlich in der Lokalgruppe Rheinland und seit 2021 im Vorstand.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem neuen FoodFirst, das FIAN-Mitgliedermagazin. Sie sind neugierig auf weitere spannende Artikel geworden? Das FoodFirst-Magazin können Sie hier abonnieren. Oder sichern Sie sich ein kostenloses Probeexemplar in gedruckter Form. Schreiben Sie einfach eine E-Mail an info@fian.de.