Am 21. Februar 2025 fand eine Fachtagung zum Thema Ernährungsarmut in Berlin statt. Neben Vertreter*innen aus der Zivilgesellschaft, die zum Recht auf Nahrung arbeiten, wie FIAN, Ernährungsräte und Armutsaktivist*innen, waren außerdem politische Entscheidungsträger*innen auf nationaler und regionaler Ebene eingeladen. Ziel der Tagung war es, die Netzwerke zwischen den Ernährungsräten, Sozialverbänden, Menschen mit Armutserfahrung und Menschenrechtsorganisationen zu stärken. Die Teilnehmenden machen sich nun gemeinsam auf den Weg, das Recht auf Nahrung in der deutschen Ernährungspolitik zu verankern. Die Konferenz wurde vom Ernährungsrat Berlin, der Diakonie Deutschland, der Nationalen Armutskonferenz (NAK) sowie dem Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) organisiert.
Elke Ronneberger, Bundesvorständin Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, betonte in ihrer Eröffnungsrede die Bedeutung einer gesunden und vollwertigen Ernährung nicht nur als Grundlage der menschlichen Existenz und Gesundheit, sondern auch des sozialen Zusammenlebens und der Teilhabe. Das Ziel sollte sein, dass alle jeden Tag Zugang zu mindestens einer warmen und gesunden Mahlzeit haben. Gewährleistet würde dies durcheine nachhaltige Ernährungspolitik und Agrarproduktion.
Im Jahr 2023 konnten sich rund 13,1% der dt. Bevölkerung nicht wenigstens jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit leisten (Eurostat). Laut Statistischem Bundesamt sind 17,7 Mio. (oder 14,4 %) der Menschen armutsgefährdet. Insgesamt sei die Datenlange in Deutschland zu den von Ernährungsarmut Betroffenen sowie zu den Ursachen von Hunger laut der Expert*innen mangelhaft. Zur Pflicht des Staates das Menschenrecht auf Nahrung progressiv umzusetzen, gehöre laut Michael Windfuhr, stellvertretender Direktor vom DIMR und seit acht Jahren Ausschussmitglied für soziale Menschenrechte, die Erhebung verlässlicher Daten.
Windfuhr erläuterte zudem die Pflichten Deutschlands, das Menschenrecht auf Nahrung zu achten, zu schützen und gewährleisten. Zum Schutz gehöre, dass der Staat gegenüber Dritten sicherstelle, dass sie in der Lage sind, das Recht umzusetzen – beispielsweise durch Vorgaben in Alters- oder Pflegeheimen bzw. einer Regulierung der Lebensmittelindustrie. Zur Gewährleistung gehöre, dass der Staat die maximal verfügbaren Ressourcen nutze, damit jede Person Zugang zu angemessener Nahrung habe. In Deutschland sei insbesondere der wirtschaftliche Zugang zu Nahrung relevant – jeder müsse sich angemessene Nahrung leisten können, ohne dafür bei anderen Posten sparen zu müssen. Der Fokus bei der Umsetzung müsse auf die am stärksten Betroffenen gelegt werden, für die gruppenspezifische Maßnahmen entwickelt werden sollten. Letztere sollten bei der Entwicklung der Lösungen aktiv beteiligt werden.

Auf der Tagung wurde insbesondere Ernährungsarmut bei Kindern diskutiert. Jedes siebte Kind oder 2,1 Mio. Kinder und Jugendliche sind hierzulande betroffen. Ulrike Arens-Azevêdo, Ökotrophologin und ehemalige Präsidentin der Dt. Gesellschaft für Ernährung, stellte die gravierenden Auswirkungen von Mangel- bzw. Fehlernährung bei Kindern auf die Gesundheit dar. Dazu gehören ein verzögertes Wachstum (stunting), eingeschränkte kognitive Entwicklung bzw. häufigeres Übergewicht und Adipositas. Studien haben zudem eindeutig geringere Lernerfolge und niedrige Schulabschlüsse bei Mangel- und Fehlernährung festgestellt. Da Kinder oft über lange Jahre in dieser Situation verbleiben, tragen sie lebenslange Schäden davon. In den Worten von Armutsaktivistin Heike Towae: „Diese Kinder werden niemals können, was sie gekonnt hätten, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätten, gesund und groß zu werden. Das ist menschenverachtend.“ Als eine wichtige Lösung hob Ulrike Arens-Azevêdo ein kostenloses Kita- und Schulessen hervor, wie es der Bürgerrat Ernährung im Wandel als seine erste Priorität empfohlen und wofür sich auch FIAN seit langem ausgesprochen hat. Es ermögliche Chancengleichheit und fördere den sozialen Zusammenhalt.
Eine Studie aus England hat außerdem herausgefunden, dass die Investition in eine kostenlose warme und gesunde Schulmahlzeit positive gesamtgesellschaftliche sowie -wirtschaftliche Effekte hat, mit einem Return on Investment von 1:1,7 Pfund über einen Zeitraum von 20 Jahren. Das Schulessen führt zu geringeren Fehlzeiten in der Schule, erhöhtem Einkommen und Produktivität, Kosteneinsparungen bei Nahrung und Gesundheitsversorgung in den Familien, einer Steigerung der Bruttowertschöpfung durch die erhöhte Nachfrage sowie einer Stärkung regionaler Wertschöpfungsketten durch den Kauf bei regionalen Essensanbietern. Als Nebeneffekt stärkt es zudem Nachhaltigkeit und Klimaschutz.
Eine zweite wichtige Gruppe von Betroffenen, die diskutiert wurde, waren ältere Menschen, insbesondere ältere Frauen. Bei Frauen über 65 Jahren liegt die Altersarmut derzeit bei 20,6% mit stark steigender Tendenz. Ulrike Arens-Azevêdo, die sich viel mit Gemeinschaftsverpflegung auseinandergesetzt hat, forderte, dass es für ältere Menschen ausreichend Angebote in Quartieren geben muss wie Mittags- oder Nachbarschaftstische, die kostenfrei oder sehr preisgünstig Essen zur Verfügung stellen. Diese sollten mit Gesundheitsdienstleistungen und weiterer Unterstützung (wie Wohnungshilfe) kombiniert werden. Auch müsse sich die Qualität der Versorgung in Krankenhäusern, Senioreneinrichtungen und Betrieben verbessern. Im ländlichen Raum müssen zusätzliche Herausforderungen für ältere Menschen für den Zugang zu guter Ernährung wie die fehlende Mobilität berücksichtigt werden.
Einig waren sich alle Expert*innen außerdem, dass der im Bürgergeld für Ernährung veranschlagte Posten von ca. 195 Euro pro Monat pro Erwachsenem für eine gesunde Ernährung nicht ausreiche, sondern ein Betrag von mindestens 450 Euro notwendig sei.
Armutsaktivist*in Heike Towae betonte, dass in dem aktuellen Betrag auch die soziale Komponente der Ernährung – ein „Kaffee mit der Freundin“ oder Pommes auswärts völlig ausgeklammert werde. Sie selbst sei „privilegiert“, da sie zur Tafel gehen könne – nur verhältnismäßig wenige von Ernährungsarmut Betroffene können das, da es viel zu wenige Ausgabestellen bei bis zu 2 Mio. Nutzer*innen gebe. Jedoch kann sie sich bei der Tafel ihr Essen nicht aussuchen, obwohl sie als chronisch Kranke besonders auf eine gesunde Ernährung achten muss. Mehrmals während der Tagung hob sie hervor, dass es sich beim Recht auf Nahrung um ein Menschenrecht handle, das der deutsche Staat unterschrieben und daher umzusetzen habe. Auch betonte sie, dass sie nicht nur „ordentlich“, sondern auch regional und saisonal einkaufen wolle. Denn beim Kauf des „billigen Krams“, gäbe es eine klare internationale Kehrseite: Sie befeuere die Armut in anderen Weltregionen, was sie keinesfalls wolle und sie verrückt mache.


Saskia Richartz vom Ernährungsrat Berlin zeigte die Entwicklungen auf kommunaler Ebene auf: Es gibt bereits 60 Ernährungsräte in Deutschland, in denen sich engagierte Bürger*innen für eine gesunde, gerechte und nachhaltig produzierte regionale und ökologische Ernährung „vom Feld bis auf den Teller“ einsetzen. Auch FIAN-Vorstandsmitglied Judith Busch koordiniert einen Ernährungsrat (Oldenburg). Um in der Bundespolitik stärker wahrgenommen zu werden und mitreden zu können, haben die Ernährungsräte gerade eine Bundesnetzwerkstelle gegründet.
Im Anschluss an die Auftaktreden wurden in verschiedenen AGs diskutiert, was auf Bundes- und kommunaler Ebene Lösungen für Ernährungsarmut sein können und welche Strategien gefahren werden sollen, um die Umsetzung des Rechts auf Nahrung in der deutschen Ernährungspolitik zu verbessern. FIAN und die Ernährungsräte wollen diesbezüglich in Zukunft eng miteinander kooperieren. Der Auftakt wird ein von FIAN geleiteter Workshop zum Recht auf Nahrung beim Jahreskongress der Ernährungsräte am 15. März in Hannover sein.
Hier finden sie die Video-Aufzeichnungen der Auftaktreden und der Podiumsdiskussion sowie die Protokolle der AGs.