Wie die Welternährungskrise an den Rand unserer Wahrnehmung gedrängt wird
Nach Angaben der UN leidet fast ein Zehntel der Weltbevölkerung unter chronischem Hunger. Das kaputte Welternährungssystem sorgt für Umweltzerstörung, welche wiederum den Hunger befeuert. Trotz dieses Zusammenhangs behandeln wir diese Krisen meistens jedoch als zwei voneinander isolierte Phänomene – mit teils fatalen Folgen für die besonders Betroffenen.
Die Zahl der Hungernden ist in den letzten zehn Jahren um fast 200 Millionen gestiegen – von rund 540 Millionen auf 733 Millionen chronisch unterernährter Menschen. Insgesamt 2,3 Milliarden Menschen sind von „mittlerer bis schwerer Ernährungsunsicherheit“ betroffen. Doch wie kann das sein? Ein Blick auf die Entwicklung der global bedeutendsten Anbauprodukte verdeutlicht, dass unser Agrar- und Ernährungssystem immer weniger darauf ausgerichtet ist, hungernde Menschen zu ernähren.
Anbau für die Satten
Die sechs Pflanzen mit den größten Flächenzuwächsen sind Mais, Palmöl, Soja, Zuckerrohr, Raps und Cassava. Ihre weltweite Anbaufläche ist seit dem Jahr 2000 um 63,7 % oder 181 Millionen Hektar gewachsen. Eukalyptus-Plantagen belegen mittlerweile 25 Millionen Hektar Land. Ihnen ist gemein, dass sie große Bedeutung als Futtermittel, Energiepflanzen, für die Bioplastik-Produktion und andere industrielle Nutzungen, nicht aber für die Ernährung von Menschen haben.
An der Entwicklung des Maisanbaus seit der Jahrtausendwende lässt sich dies besonders gut illustrieren: Dessen globale Anbaufläche ist von 137 Millionen Hektar auf 203 Millionen Hektar regelrecht explodiert. Mit einem Zuwachs von rund 67 Millionen Hektar – also der fünfeinhalbfachen Ackerfläche Deutschlands! – ist Mais weltweit am stärksten expandiert. Jedoch werden gerade einmal 20 % der globalen Maisernte für die direkte Ernährung verwendet.
Nur noch 40 % der Weltgetreideernte insgesamt landen heute laut Welternährungsorganisation (FAO) direkt auf dem Teller. Ein wachsender Anteil hingegen wird als Futtermittel (37 %), für industrielle Nutzung (16 %) und zur Energiegewinnung (7 %) verwendet. Das gebetsmühlenartige Rezitieren, wir müssten mehr produzieren, hilft daher kaum weiter: Der Blick auf die Produktion muss zwingend mit einem Blick darauf gekoppelt werden, wer auf welchen Flächen was für wen anbaut. Aber wieso werden eigentlich so viel mehr Pflanzen ohne direkten Ernährungszweck auf so viel größeren Flächen angebaut?
Die Weltbank propagiert seit den 1980er-Jahren den Ansatz der „handelsbasierten Ernährungssicherung“. Die Produktion soll sich demnach auf Agrargüter für den Weltmarkt ausrichten, die nationale Ernährungssicherung hingegen verstärkt über den Import von Nahrungsmitteln gewährleistet werden. Durch diese Politik wurden die fünfzig ärmsten Länder seit den 1980er-Jahren von Selbstversorgern und Netto-Exporteuren von Nahrungsmitteln zu Netto-Importeuren. Heute erhalten diese Länder insgesamt 30 Milliarden US-Dollar für den Agrarexport, müssen aber jährlich 60 Milliarden für den Import von Grundnahrungsmitteln aufwenden. Das Welternährungssystem verfehlt also ganz klar seinen Zweck. Aber warum wird so wenig darüber geredet, obwohl wir es augenscheinlich mit einer schweren und sich verschlimmernden Ernährungskrise zu tun haben?
Das (gefährliche) Narrativ des „grünen“ Wachstums
Diskurse haben großen Einfluss auf unsere Gesellschaft. Ein Diskurs, der seit einigen Jahren intensiv geführt wird, bewegt sich rund um die dreifache planetarische Krise des Klimawandels, des Verlusts der Biodiversität und der Desertifikation, also der Bodendegradation. Die Zahlen zeigen, dass diese direkt mit dem Hunger in der Welt verbunden sind.
So ist das Welternährungssystem für 44-57 % aller Treibhausgasemissionen verantwortlich.[i] Die Agrarbiodiversität wurde durch die monokulturelle industrielle Landwirtschaft so stark dezimiert, dass 75 % der Nahrungsmittel nur noch von zwölf Pflanzen und fünf Tierarten abstammen. Und die Übernutzung des Bodens u.a. durch Abholzung und Verwendung synthetischer Düngemittel hat stark dazu beigetragen, dass über zwei Milliarden Hektar Land – ein Fünftel der Erdoberfläche – degradiert sind.[ii]
Trotz dieser alarmierenden Fakten werden diese Zusammenhänge in den meisten Lösungsansätzen unterschlagen. Das begünstigt die Agrarindustrie und verbündete Staaten im Globalen Norden und Globalen Süden darin, die allgemeine Aufmerksamkeit allein auf die dreifache planetarische Krise zu lenken und dabei die permanente Hungerkrise an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung zu drängen. In der Folge werden auch ganzheitliche Ansätze, die Agrarökologie, nachhaltige Hungerbekämpfung und Umweltschutz vereinen, marginalisiert. Stattdessen spricht die Agrarindustrie gemeinsam mit vielen Staaten das Mantra des sogenannten grünen Wachstums und setzt einseitig auf technologische Lösungsansätze.
Bioökonomie ist Teil des grünen Wachstumsnarrativs
Die Bioökonomie – also eine Wirtschaft ohne fossile Rohstoffe – und sogenannte Nature-Based-Solutions (naturbasierte Lösungen) können dem Narrativ des grünen Wachstums zugeordnet werden. Beispielsweise setzt die einflussreiche G20-Staatengruppe unter der aktuellen Präsidentschaft Brasiliens einen besonderen Fokus auf die industrielle Bioökonomie.
Das Problem: Es ist einfach nicht genug Biomasse vorhanden, um den aktuellen und zukünftigen Bedarf der Industrie nachhaltig zu decken. Und da schon heute Staaten ihre Biomasse-Bedarfe mit Importen decken, droht die Bioökonomie nur zu einer Verschiebung der Probleme mit fossilen Rohstoffen zu verkommen. Letztlich ist absehbar, dass durch diese vermeintlich grüne Lösung der Druck auf das globale Ernährungssystem weiter stark anwachsen wird und sich arme, hungernde Bevölkerungsgruppen im „Wettbewerb“ mit Industrie und ihren Biomassebedarfen wiederfinden – einem „Wettbewerb“, den sie nicht gewinnen können.
Zu den „naturbasierten Lösungen“ zählen sogenannte CO₂-Kompensationsprojekte. In einer Fallstudie über den größten CO₂-Kompensationszertifizierer Verra stellten Wissenschaftler*innen fest, dass ca. 90 % des vermeintlichen CO₂-Ausgleichs Phantomkompensationen waren.[iii] Für die Gewinne aus diesem Geschäft gehen Staaten und Unternehmen Hand in Hand. Das Beispiel der Ogiek-Gemeinschaft in Kenia, deren Mitglieder für CO₂-Kompensationsvorhaben zu Hunderten gewaltsam von ihrem Land vertrieben wurden, ist dabei nur eines von Tausenden. Heute machen solche sogenannten Green Grabs bereits 20 % aller global dokumentierten Landnahmen aus – mit steigender Tendenz.
Mit Menschrechten gegen den Hunger
Die oben genannten Praktiken führen weltweit zu Verstößen gegen das völkerrechtlich verbriefte Menschenrecht auf Nahrung. Es betont den Zugang zu produktiven Ressourcen und damit das Recht, sich selbst in Würde ernähren zu können. Marginalisierte Gruppen genießen bei der Umsetzung Priorität. Denn eine Welt ohne Hunger wird es nur geben, wenn die Verwirklichung der Rechte von benachteiligten und diskriminierten Menschen an erster Stelle steht.
Ein Positivbeispiel für Partizipation auf globaler Ebene ist der UN-Welternährungsausschuss (Committee on World Food Security – CFS) , in dem betroffene Gruppen – wie Indigene, Bäuer:innen, Fischer:innen und weitere – nicht als passive Opfer, sondern als aktive Rechteinhabende anerkannt werden und bei zwischenstaatlichen Verhandlungen direkt mitreden können. Der CFS ist das inklusivste Gremium der UN. Die Bundesregierung hat sich dieses Jahr im Rahmen der Agrarminister:innenkonferenz und der Konferenz „Politik gegen Hunger“ ausdrücklich für die Umsetzung des Rechts auf Nahrung und für den CFS als die internationale Plattform für die Koordinierung von Welternährungspolitik stark gemacht.
In der diesjährigen Hauptsitzung des CFS im Oktober muss Deutschland daher auf die von Rechteinhabenden geforderte Wiederverpflichtung der Staaten zur Achtung, zum Schutz und zur Gewährleistung des Rechts auf Nahrung eingehen und konkrete Schritte für ihre Umsetzung einleiten. Zur Politikkohärenz und damit effektiveren Umsetzung des Rechts auf Nahrung bei gleichzeitigem Schutz der Umwelt sollte die Bundesregierung sich ebenfalls dafür einsetzen, dass die im CFS – gerade auch durch Rechteinhabende – erstrittenen Politikrichtlinien bei den diesjährigen Gipfeltreffen (COPs) der drei Rio-Konventionen zu Klima, Biodiversität und Desertifikation angewandt werden.
Im Juni hoben Rechteinhabende bei der internationalen Konferenz „Politik gegen Hunger“ noch einmal die herausragende Bedeutung des CFS und seine Möglichkeiten der sozialen Teilhabe hervor. Denn die Erfahrungen zeigen deutlich, dass das Recht auf Nahrung nur dann effektiv durchgesetzt wird, wenn die betroffenen Gruppen es schaffen, sich zu organisieren und Handlungsdruck auf staatliche Akteure und auf Unternehmen auszuüben. Dass die soziale Teilhabe oft nicht gewährt wird, ist ein zentraler Grund dafür, dass die staatlichen Versprechen bei der Hungerbekämpfung keine Wirkung entfaltet haben. 2,3 Milliarden „ernährungsunsichere“ Menschen sprechen eine deutliche Sprache.
Kasten Das Konzept der Ernährungssicherheit – entstanden in den 1970er-Jahren im Kontext der Hungerbekämpfung durch die FAO – bietet im Gegensatz zum Recht auf Nahrung keine ausreichenden Antworten auf die strukturellen Probleme. Die Verengung auf technische und vermeintlich politisch neutrale Lösungen sowie ein starker Fokus auf globale Produktionsmengen ist nicht nur inhaltlich falsch. Die tonangebenden Akteure schaffen es damit auch, ihre eigene Markt- und Machtexpansion in eine Lösung für den Hunger in der Welt umzuetikettieren.
Quellen:
[i]Via Campesina (2014): Food and Climate Poster https://www.grain.org/media/W1siZiIsIjIwMTQvMTIvMDQvMTdfMjVfMTVfMjIwX0Zvb2RfYW5kX2NsaW1hdGVfcG9zdGVyXzA3LnBkZiJdXQ
[ii] United Nations (2019): Live on Land: Why it matters.
https://www.un.org/sustainabledevelopment/wp-content/uploads/2019/07/15_Why-It-Matters-2020.pdf
[iii] The Guardian (2023): Revealed: more than 90% of rainforest carbon offsets by biggest certifier are worthless, analysis shows
https://www.theguardian.com/environment/2023/jan/18/revealed-forest-carbon-offsets-biggest-provider-worthless-verra-aoe
Autor*innen: Roman Herre – Agrarreferent und Jan Dreier – Referent für das Recht auf Nahrung.
Dieser Beitrag wurde zuerst auf der Webseite vom Forum Umwelt und Entwicklung veröffentlicht.