Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem neuen FoodFirst, dem FIAN-Mitgliedermagazin. Er wurde von Martin Wolpold- Bosien geschrieben. Sie sind neugierig auf weitere spannende Artikel geworden? Das FoodFirst-Magazin können Sie hier abonnieren. Oder sichern Sie sich ein kostenloses Probeexemplar in gedruckter Form. Schreiben Sie einfach eine E-Mail an info@fian.de.
Im November 2024 wird der 20. Jahrestag der Verabschiedung der UN-Leitlinien zum Recht auf Nahrung begangen. Dieses internationale Instrument hat eine grundlegende Rolle dabei gespielt, menschenrechtsbasierte Richtlinien für die Ernährungspolitik zu beschreiben und den Staaten konkrete eine Orientierung zur Umsetzung ihrer Verpflichtungen zu geben. Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick über einige Schlüsselmomente des Jahrzehnts vor der Verabschiedung der Leitlinien sowie der beiden folgenden Jahrzehnte, in denen ein erweiterter normativer Rahmen für das Recht auf angemessene Nahrung entwickelt wurde.
Das Recht auf angemessene Nahrung wurde als Teil des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und in Artikel 11 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 anerkannt. Auf konzeptioneller Ebene leistete der norwegische Rechtswissenschaftler Asbjørn Eide mit seiner Studie zum Recht auf angemessene Nahrung für die UN-Menschenrechtskommission 1986 bahnbrechende Arbeit. Im selben Jahr wurde FIAN gegründet. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nahm 1987 seine Arbeit zur Überwachung des Sozialpakts auf.
Unteilbarkeit der Menschenrechte: Bedingung für Durchbruch des Rechts auf Nahrung
Über Jahrzehnte hinweg hatte der Kalte Krieg zu einer Polarisierung zwischen den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten einerseits und den bürgerlichen und politischen Rechten andererseits geführt und so die Unteilbarkeit der Menschenrechte blockiert. Ein entscheidender Wendepunkt war die UN-Weltkonferenz über Menschenrechte im Jahr 1993, bei der in Artikel 5 der Erklärung von Wien anerkannt wurde: „Alle Menschenrechte sind universell, unteilbar, miteinander verbunden und bedingen einander.“ Diese grundlegende Feststellung bedeutete eine zunehmende Aufmerksamkeit für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte und ebnete auch dem Recht auf Nahrung neue Wege auf der internationalen Agenda.
Der politische Durchbruch kam mit dem Welternährungsgipfel 1996 in Rom: Gleich im ersten Satz der Gipfelerklärung bekannten sich die Staats- und Regierungschefs zur Umsetzung des Rechts auf angemessene Nahrung. Der Aktionsplan enthielt eine spezifische Verpflichtung (Ziel 7.4.), die den weiteren Prozess prägte und die Agenda für die folgenden zehn Jahre setzte: „den Inhalt des Rechts auf angemessene Nahrung und das Grundrecht eines jeden Menschen, frei von Hunger zu sein, zu präzisieren, (…) und besondere Aufmerksamkeit auf die Umsetzung sowie vollständige und schrittweise Verwirklichung dieses Rechts als Mittel zur Erreichung der Ernährungssicherheit für alle zu richten.“ Aus diesem Ziel ergaben sich zwei Hauptaufgaben: die Klärung des Rechtsinhalts und die Entwicklung politischer Leitlinien für die Umsetzung.
Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verabschiedete 1999 die Allgemeine Bemerkung 12 zum Recht auf Nahrung, die sich vor allem dem Rechtsinhalt widmete. Ein Jahr später richtete der Menschenrechtsrat das Mandat der UN-Sonderberichterstattung zum Recht auf Nahrung ein. Seither haben die Mandatsträger*innen substanzielle Beiträge zum Verständnis und Umsetzung geleistet.
Zwischen 2002 und 2004 wurden die „Freiwilligen Leitlinien für die schrittweise Verwirklichung des Rechts auf angemessene Nahrung im Kontext der nationalen Ernährungssicherheit“ im Welternährungsausschuss CFS (Committee on World Food Security) verhandelt. Dies waren die ersten zwischenstaatlichen Verhandlungen in Rom, an denen zivilgesellschaftliche Organisationen aktiv beteiligt waren – obwohl sie formal nur einen Beobachtungsstatus hatten. Die Leitlinien zum Recht auf Nahrung wurden im November 2004 vom Rat der Welternährungsorganisation FAO einstimmig angenommen.
Beteiligung von Rechteinhabenden
In den dann folgenden Jahren wurde der Schwerpunkt auf politische Maßnahmen und fachliche Unterstützung zur Umsetzung der Leitlinien gelegt. Viele Länder integrierten das Recht auf Nahrung in Gesetzgebungen und Verfassungen. Zahlreiche nationale und internationale Programme und Projekte wurden entwickelt und umgesetzt. Damit leisteten die Leitlinien zum Recht auf Nahrung erfolgreiche Pionierarbeit bei der Implementierung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte insgesamt.
In Reaktion auf die globale Nahrungsmittelkrise 2008 wurden die Leitlinien mit der Reform des CFS auch zu einem Grundstein der Reform multilateraler Entscheidungsstrukturen zu Ernährungssicherheit. Die schrittweise Verwirklichung des Rechts auf angemessene Nahrung wurde als Kernstück des Mandats des reformierten CFS aufgenommen. Die Erfahrungen mit der sozialen Beteiligung aus den Verhandlungen über die Leitlinien wurden institutionalisiert – bis heute ein Meilenstein für die direkte Beteiligung der Rechteinhabenden in UN-Gremien.
Je einflussreicher das Recht auf Nahrung jedoch wurde, desto mehr wurde es attackiert oder zur Seite gedrängt – auch bei der Welternährungsorganisation FAO in Rom. Neue Impulse sind in der jüngeren Zeit aber von einigen einflussreichen Länder aus dem Globalen Süden und Norden gekommen. Sie haben zum Ausdruck gebracht, dass das Recht auf angemessene Nahrung wieder zu einer Priorität der FAO werden sollte. Der Arbeitsplan des CFS für 2024-2027 ist darauf ausgerichtet, das Recht auf angemessene Nahrung durchgängig wieder stärker in den Vordergrund zu rücken.
Erweiterter normativer Rahmen
Eine der tragenden Errungenschaften der Leitlinien zum Recht auf Nahrung besteht darin, dass sie die Entwicklung anderer normativer UN-Instrumente inspiriert und beeinflusst haben. Sie haben das Verständnis und die Verflechtung des Rechts auf angemessene Nahrung in verschiedene Politikbereiche vertieft, die für viele Rechteinhabende und die pflichtentragenden Staaten von Bedeutung sind. So ist ein erweiterter und ausdifferenzierter normativer Handlungsrahmen zum Recht auf Nahrung entstanden.
Ein Beispiel sind die 2012 vom CFS verabschiedeten Freiwilligen Leitlinien für eine verantwortungsvolle Verwaltung von Land-, Fischerei- und Waldbesitz (VGGT). Die VGGT sind zu einer zentralen normativen Referenz in Landbesitzfragen geworden, die das Recht auf Nahrung betreffen. Viele der anderen CFS-Politikergebnisse aus den letzten zehn Jahren haben wesentlich zur Weiterentwicklung menschenrechtsbasierter Standards beigetragen, darunter in den Bereichen Wasser, soziale Sicherheit, Zugang von Kleinproduzent*innen zu Märkten, Konflikte und anhaltende Krisen. Eines der neuen Dokumente in diesem Zusammenhang sind die Freiwilligen Leitlinien zur Gleichstellung der Geschlechter und zur Stärkung von Frauen und Mädchen, die im Oktober 2023 vom CFS angenommen wurden.
Parallel dazu wurden in anderen UN-Foren weitere normative Instrumente zu Bereichen entwickelt, die für das Menschenrecht auf Nahrung und für bestimmte Gruppen von Rechteinhabenden von besonderer Bedeutung sind. Dazu gehören die UN-Erklärung der Rechte Indigener Völker (UNDRIP), die UN-Erklärung der Rechte von Kleinbäuer*innen und anderen in ländlichen Gebieten arbeitenden Menschen (UNDROP), die Freiwilligen Leitlinien der FAO für die Kleinfischerei (VGSSF) und die politischen Leitlinien der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zur Förderung angemessener Arbeitsbedingungen im Agrar- und Ernährungssektor.
Dieser erweiterte normative Rahmen birgt ein großes Potential. Er bietet einerseits konkrete und ausdifferenzierte Standards und Empfehlungen, wie staatliche Politikmaßnahmen auf nationaler, sektoraler oder internationaler Ebene im Einklang mit menschenrechtlichen Verpflichtungen umgesetzt werden können. Die Unteilbarkeit der Menschenrechte und die enge Verbundenheit des Rechts auf Nahrung mit anderen Menschenrechten wird damit für die praktische Anwendung akzentuiert und ausbuchstabiert. Andererseits bietet der erweiterte normative Rahmen eine orientierende Vision dafür, wie die notwendige Transformation der Ernährungssysteme zu mehr Gerechtigkeit, sozialer Teilhabe, Nachhaltigkeit und Vielfalt mit den Mitteln menschenrechtlicher Kohärenz und Rechenschaftspflichten gestaltet werden kann.