1988 wurde von der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ein rechtsverbindliches Übereinkommen zum Schutze „Indigener und Tribaler Völker“ angenommen. Zufolge des Übereinkommens 169 soll es Ziel staatlicher Politik sein, die Identität dieser Völker anzuerkennen und zu schützen; staatliche Maßnahmen, die diese Völker betreffen, sollen grundsätzlich nur unter deren Beteiligung und Mitwirkung ergriffen werden. Eine besonders relevante Bestimmung findet sich in Art. 6: Danach sollen die betreffenden Völker durch geeignete Verfahren konsultiert werden, wann immer gesetzgeberische oder administrative Maßnahmen, die sie unmittelbar berühren können, erwogen werden. Weiter heißt es: „Die in Anwendung dieses Übereinkommens vorgenommenen Konsultationen sind in gutem Glauben und in einer den Umständen entsprechenden Form mit dem Ziel durchzuführen, Einverständnis oder Zustimmung bezüglich der vorgeschlagenen Maßnahmen zu erreichen.“
Zankapfel Bodenschätze
Bei Erarbeitung des Übereinkommens spielte die Frage der Land- und Territorialrechte eine besondere Rolle. Obwohl grundsätzlich Eigentum der Indigenen Völker über „traditionell besessene Ländereien“ anerkannt wird, ist die Frage des Eigentums an den Bodenschätzen offengelassen worden. Als Ausgleich für diese Zurückhaltung bei Rechten an Bodenschätzen heißt es in Artikel 15: „In Fällen, in denen der Staat das Eigentum an den mineralischen oder unterirdischen Ressourcen […] behält, haben die Regierungen Verfahren festzulegen […], mit deren Hilfe sie die betreffenden Völker zu konsultieren haben, um festzustellen, ob und in welchem Ausmaß ihre Interessen beeinträchtigt werden würden, bevor sie Programme zur Erkundung oder Ausbeutung solcher Ressourcen ihres Landes durchführen oder genehmigen. […]“ Durch Konsultationen und Modifikationen der Vorhaben sollen also deren negative Auswirkungen verhindert oder zumindest reduziert werden. Das Übereinkommen führte, begleitet von tröpfelnden Ratifizierungen durch einzelne lateinamerikanische Staaten, in den Jahren nach dem Inkrafttreten einen Dornröschenschlaf.
Kontroverse Rechtsauslegung
Nach blutigen Zusammenstößen in Peru, die mit dem Widerstand gegen die vorgesehene Ausweitung von Bergbauvorhaben zu tun hatten, wurde Peru 2011 das erste lateinamerikanische Land, in dem ein Gesetz zur nationalen Regelung der Konsultation in Kraft trat. In der Folge spitzten sich in ganz Lateinamerika Ressourcenkonflikte vor dem Hintergrund einer neuen Phase des Extraktivismus zu: Bemerkenswert ist, dass die Konfliktlinien in allen Ländern, also auch sehr unterschiedlich regierten Staaten der Region, ähnliche Konturen annahmen.
Im Zuge der breiter werdenden Mobilisierung der Indigenen Völker nach der Jahrtausendwende wurde die Berufung auf das Konsultationsrecht eine der wichtigsten Waffen im Kampf gegen die negativen Auswirkungen von kommerziellem Ressourcenabbau – und schließlich immer mehr auch Basis für den grundsätzlichen Widerstand Extraktivismus. Die rechtlichen Entwicklungen auf den verschiedenen Ebenen führten aber auch dazu, dass die verschiedenen Akteure inhaltlich sehr unterschiedliche Diskurse und Erwartungen zur konkreten Implementierung einbrachten. Die Debatten orientieren sich nicht zuletzt auch an der dichter werdenden Rechtsprechung der Verfassungsgerichte in mehreren lateinamerikanischen Staaten und des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes, woraus teilweise unterschiedliche Elemente für Anforderungen an Konsultationsprozesse gewonnen werden können. Die Widersprüche betreffen praktisch alle fraglichen Aspekte dieses Rechtes:
Was muss konsultiert werden? Vor allem ist umstritten, welche Intensität an Betroffenheit eines Indigenen Volkes gegeben sein muss, um eine Konsultationspflicht auszulösen. Was geschieht mit einem Bergbauvorhaben, das zwar nicht im direkt von einem Indigenen Volk besiedelten Gebiet realisiert werden soll, das aber Auswirkungen auf die ökologischen Gegebenheiten in der Umgebung des Siedlungsgebietes, etwa auf den Wasserhaushalt, hat?
Wann muss konsultiert werden? Zweifellos sind Entscheidungen und Projekte „vorweg“ zu konsultieren. Ein bereits in die Wege geleitetes Projekt wird kaum umgeplant oder gestoppt werden können. Was geschieht jedoch, wenn erst im Zuge des Verlaufs eines Projektes unvorhersehbare Probleme auftauchen? Wie sollen Bergbauprojekte vorweg konsultiert werden, wenn wegen internationaler Ausschreibung die Firma, die den Zuschlag zur Durchführung des Vorhabens bekommen soll, noch nicht feststeht? Während Staaten die Konsultation als einmaligen Vorgang sehen, der das Projekt mit dem „Grünen Licht“ der sogenannten Soziallizenz absegnet, sehen Indigene Völker Konsultationen als partizipativen Prozess, der die wesentlichen Schritte des gesamten Projekts begleiten soll.
Wer muss konsultiert werden? Das peruanische Konsultationsgesetz – beispielsweise -–beschränkt die Konsultation auf Bevölkerungen, die „direkte Nachkommen“ der präkolumbischen Bewohner*innen des Landes sind. Die staatliche Verwaltung kontrolliert und formalisiert die Umschreibung jener Gruppen, welche Nutznießer des Konsultationsrechtes sein sollen und hat jahrelang die als Campesinos bezeichneten Bewohner*innen der Andengebiete und der Küste vom Recht, konsultiert zu werden, ausgeschlossen. Nach dieser Logik fiel die Hauptbergbauregion Perus aus dem Anwendungsbereich der Konsultation heraus. Im Gegensatz dazu haben in ganz Lateinamerika sehr unterschiedliche lokale Bevölkerungen „ihr“ Konsultationsrecht eingefordert – und waren oftmals dabei erfolgreich: In Kolumbien wurde das Konsultationsrecht beispielsweise sogar gesetzlich auf afrokolumbianische Gemeinschaften, Roma und andere ethnische Minderheiten ausgeweitet.
Wie muss konsultiert werden? „Gutgläubigkeit“ – ein uraltes juristisches Konzept – ist bei Durchführung vorausgesetzt: Die abschätzbaren Details und Risiken eines Vorhabens müssen deutlich dargelegt werden; diese Darlegung soll kultursensibel erfolgen; die Auswirkungen sollen auch aus kultureller Perspektive der konsultierten Gruppe bewertet werden und die Bewertung soll innerhalb der betroffenen Gruppe nach deren sozialen Normen und Dynamiken erfolgen. Demgegenüber betreiben die Saaten oftmals eine formalisierte und technokratische Form der Darlegung von Risiken, die aus vorgeblich naturwissenschaftlicher Objektivität dargelegt werden. Konsultationen werden zusätzlich, schon aus Kostengründen, in vorgegebene enge zeitliche Ablaufschemata gepresst. Gutgläubige Konsultation bedeute auch, dass diese Verfahren ohne Druck erfolgen müssen: Dies bedeutet nicht nur direkte Gewaltandrohung, sondern auch die Ausnützung wirtschaftlicher Notsituationen.
Wer muss konsultieren? Rechtlich ist der Staat für die Konsultation verantwortlich. In der Praxis kommt Firmen bei der Beeinflussung der Parameter von Konsultationsverfahren eine große, kaum transparente Rolle zu; der Staat verlässt die ihm theoretisch zugedachte Rolle als objektiver Akteur, der nicht einseitig auf die Erzielung eines für die Firma vorteilhaften Ergebnisses hinarbeiten darf.
Die umstrittenste Frage schließlich: – was ist das Ergebnis des Konsultationsprozesses? Wie in den internationalen Rechtsinstrumenten formuliert ist, sollen Konsultationen mit dem Ziel durchgeführt werden, Einverständnis oder Zustimmung für das vorgesehene Vorhaben zu erreichen. Staaten folgern daraus, dass Indigenen Völkern kein Recht zustehe, ihr Zustimmung gegebenenfalls auch zu verweigern. Auch sie müssten auf „Zustimmung“ hinarbeiten. Indigene Aktivist*innen fragen dagegen, welchen Sinn Konsultationen letztlich haben, die nicht auch auf wirksame, und im gegebenen Fall sogar unbegründete Ablehnung eines Projektes hinauslaufen könnten. Sie berufen dich dabei auch auf ihr Selbstbestimmungsrecht als Völker, das das Recht, über Ressourcen in ihrem Lebensraum zu entscheiden, beinhalte. Eine differenzierte Sicht hat die Rechtsprechung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes entwickelt: Staaten seien einerseits nicht in jedem Fall an eine Ablehnung eines Projektes durch eine indigene Gruppe gebunden, dürften aber andererseits ein Projekt nicht realisieren, sofern erwiesen ist, dass von diesem gravierende und weitreichende Gefährdungen für die Gruppe auszugehen drohen. Je tiefer ein Vorhaben ins Leben einer indigenen Gruppe eingreift, desto intensiver sei zu konsultieren, um eine Ausgestaltung anzustreben, die auch den Vorstellungen der indigenen Gruppe entspreche und letztlich deren Konsens finde.
Beratung oder Selbstbestimmung?
Eine doppelbödige Strategie haben die die Bergbau- und Energiegewinnungskonzerne im Zuge ihrer CSR Politik entwickelt: Sie betonen, sich „freiwillig“ ans Prinzip des PIC gebunden zu sehen und in ihrer Firmenpolitik die soziale Wohlfahrt der „lokalen“ Bevölkerungen in den Mittelpunkt zu stellen. Aus den Selbstdarstellungen internationaler, oftmals kanadischer oder schweizerischer, Konzerne, die sich im Bergbau in Lateinamerika engagieren, gewinnt man den Eindruck, dass sie gewillt sind, ohne Erlangung der so genannten „social licence“ keine Projekte in die Wege leiten. Diese Darstellung verschweigt, dass es nach wie vor die die Staaten sind, die Bergbaukonzessionen und Lizenzen vergeben: während also die sozialpsychologisch geschulten relacionistas comunitarios der Konzerne vor Ort mit verhandlungswilligen indigenen Einzelpersonen um die Erlangung eines „Konsens“ debattieren, haben ihre Jurist*innen in staatlichen Bergbaubehörden bereits Anträge gestellt, um Konzessionen erteilt zu bekommen. Die formell vorgesehene Konsultation erfolgt dann im Schnellverfahren.
ao.Univ.-Prof. Dr. René Kuppe, ist Jurist, Kulturanthropologe und Mitglied im Board von „International Work Group for Indigenous Affairs“ (IWGIA). Der Artikel ist in Langversion bei „lateinamerika anders“ erschienen.