10.000 Jahre lang haben die Menschen ökologische Landwirtschaft betrieben, Nahrung im Einklang mit der Natur erzeugt, die Ressourcen der Erde zurückgeführt und nachhaltig die Ernährung der Welt sichergestellt. In nur 50 Jahren hat die industrielle Landwirtschaft diese ökologischen Grundlagen zerstört, Profite in den Mittelpunkt landwirtschaftlicher Praktiken gerückt und die Umwelt verwüstet, so die These von Vandana Shiva.
In ihrem Buch Wer ernährt die Welt wirklich? räumt sie mit den Mythen über den angeblichen Beitrag der Agrarindustrie zur Welternährung auf. Gewappnet mit unzähligen empirischen Studien und Beispielen, historischen und wissenschaftlichen Fakten zeigt sie, wie die chemie-, wasser-, energie- und kapitalintensive industrielle Landwirtschaft den Hunger verstärkt, Mensch und Natur schadet und wer wirklich unsere Nahrungsgrundlage schafft: 70% der weltweiten Nahrungsmittel werden von Kleinbäuer*innen produziert.
Die industrielle Landwirtschaft hingegen trägt nur zu einem Viertel zur Welternährung bei. Sie verbraucht jedoch drei Viertel der Ressourcen, die die Landwirtschaft weltweit in Anspruch nimmt. Zudem beanspruchen industrielle Agrarbetriebe einen riesigen Anteil der landwirtschaftlichen Nutzflächen. So kontrollieren in der EU drei Prozent der Agrarbetriebe die Hälfte der landwirtschaftlichen Fläche. 80 % der Agrarbetriebe hingegen bewirtschaften gerade mal 14,5 % der Flächen.
In den einzelnen Kapiteln erklärt Vandana Shiva sachkundig, welche fatalen Folgen verschiedene agrarindustrielle Praktiken für die Umwelt und die weltweite Ernährungssituation haben und stellt diesen die Methoden der ökologischen Landwirtschaft gegenüber. Die Propaganda der Agrarindustrie entlarvt sie als Lügen, mittels derer einige wenige transnationale Unternehmen ihre Profite zu sichern suchen.
Zum Beispiel steigern chemische Düngemittel und Pestizide die Erträge nicht ansatzweise so sehr wie Gründüngung und Artenvielfalt, erläutert Shiva. Da Agrarchemikalien die Artenvielfalt und die Bodenfruchtbarkeit verringern und Bestäuber, welche die Schädlingspopulationen regulieren, abtöten, bewirken sie den gegenteiligen Effekt: Die Nahrungsmittelerträge werden trotz viel höherem Ressourcen- und Kosteneinsatz verringert. Hierfür liefert Vandana Shiva erstaunliche Zahlen: Für einen Output von 100 Einheiten Nahrung werden in Monokulturen ganze 300 Energieeinheiten Input gebraucht. Im Vergleich dazu werden in agrarökologischen Mischkulturen für denselben Output an Nahrung nur 5 Einheiten Input benötigt.
Alternativen aufgezeigt
Ebenso wie Agrochemikalien und Monokulturen nimmt Shiva auch industrielle Großbetriebe, Patente auf industrielles Saatgut, globale Warenströme sowie die Verdrängung des Wissens der Frauen auseinander. Am Ende erscheint eine Wende zur Agrarökologie so einleuchtend wie notwendig, um in Zukunft weltweit eine gesunde Ernährung sicherstellen zu können. Biodiversität, kleinbäuerlicher Anbau, Saatgutfreiheit, vielfältige regionale Ernährungssysteme, das Wissen von Frauen und vor allem ein Miteinander von Mensch und Natur bilden hierzu die Grundlagen. Ziel und Ergebnis von Landwirtschaft muss die Regeneration natürlicher Ressourcen und die Schaffung nachhaltiger Lebensgrundlagen sein, nicht Profit.
Für die auf dem Gebiet der Landwirtschaft unkundige Leser*in bietet das Buch durch seine klare Struktur entlang der einzelnen Praktiken, durch prägnante und leicht verständliche Erklärungen ihrer Wirkungsweise und durch lebhafte Beispiele eine gute Übersicht.
Trotz ihrer hauptsächlich auf Fakten basierenden Argumente lässt sich die Wut der Autorin über die agrarindustriellen Lügen durch ihre Sprachwahl deutlich spüren und ergreift auch die Leser*in emotional. Die in jedem Kapitel deutlicher werdende Diskrepanz zwischen der Realität einer sich durchsetzenden Agrarindustrie und dem Ideal der Agrarökologie an ihrer statt steigert den Frust der Leser*in – aber auch die Hoffnung auf gangbare Lösungen.
Konkrete Handlungsanweisungen für die Leser*in beschränken sich jedoch auf die Unterstützung von Bewegungen für die Rechte der Erde und der Menschen, zivilen Ungehorsam gegen ungerechte Saatgutgesetze und dass jeder Mensch lernen solle, Nahrung anzubauen und mindestens im kleinen Rahmen auf dem Balkon, auf der Mauer oder im Garten etwas pflanzen solle. Diese Optionen sowie abstrakte Aufforderungen wie „Frieden mit der Erde zu schließen“ oder „den Übergang zur Agrarökologie zu vollziehen“ eröffnen jedoch wenig konkrete Perspektiven, wie die Agrarindustrie gestoppt werden kann.
Blick auf menschenrechtliche Ansätze
Ein erweiterter Blick auf Menschenrechte und menschenrechtliche Verfahren könnte hier Abhilfe schaffen. Vandana Shiva fordert wiederholt die Beachtung menschenrechtlicher Prinzipien wie Partizipation und Transparenz, indem sie die Nicht-Einbeziehung des Wissens von Kleinbauern und Frauen problematisiert und das Recht zu wissen, was man isst und unter welchen Bedingungen Nahrungsmittel angebaut wurden, formuliert. Sie nennt auch die Menschenrechte auf Nahrung und Gesundheit und erläutert beispielsweise, dass das Recht auf Nahrung ein Recht von Bäuer*innen auf das eigene Saatgut beinhalten muss – stattdessen besitzen Unternehmen die Freiheit, Saatgut zu patentieren.
Menschenrechtliche Verfahren eröffnen hier Chancen, der Agrarindustrie Einhalt zu gebieten. Denn das Recht auf Nahrung und das Recht auf Gesundheit sind im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) verankert. Alle 171 Unterzeichnerstaaten sind verpflichtet, die Menschenrechte im In- und Ausland zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten. Entsprechend könnten nationale Gerichte Saatgutpatente, den Einsatz von Agrochemikalien oder auch Handelsabkommen wegen Verletzung der Menschenrechte verbieten. In der EU kann zudem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angerufen werden.
Die Staaten haben auch die Pflicht, extraterritorial – im Ausland – die Menschenrechte zu achten. Daher kann von Regierungen gefordert werden, Unternehmen wirksam zu regulieren, sodass diese bestraft werden können, wenn sie selbst, ihre Subunternehmen oder Zulieferer zu Menschenrechtsverletzungen beitragen. Eine menschenrechtliche Regulierung würde den Export von Agrochemikalien verbieten und bestrafen, wenn dieser zu Menschenrechtsverletzungen beiträgt.
Über die Berichtsverfahren bei den Vereinten Nationen kann zusätzlich Druck auf Regierungen ausgeübt werden, die Empfehlungen der Berichterstatter zu erfüllen, zum Beispiel zur Regulierung von Unternehmen. All solche menschenrechtlichen Verfahren bieten Chancen, gegen die Praktiken der Agrarindustrie vorzugehen und bilden daher vielleicht eine lohnenswerte Ergänzung zu den Ausführungen der Autorin.
Mit Wer ernährt die Welt wirklich? schafft Vandana Shiva ein Bewusstsein dafür, wie ein Leben der Menschen im Einklang mit der Natur möglich ist und beide sich gegenseitig erhalten können, und legt mit ihrer Aufklärungsarbeit zur Welternährung einen wichtigen Grundstein für die notwendige Wende zur ökologischen Landwirtschaft, um unsere Ernährung und den Erhalt der Erde sichern zu können. (Pauline Müller)