Am 21. September erklärte der Oberste Gerichtshof Brasiliens in einer bahnbrechenden Entscheidung ein gegen die Interessen Indigener Völker gerichtetes Gerichtsurteil für verfassungswidrig. Nach der sogenannten Stichtagsregelung (marco temporal) sollen Indigene, die vor dem Inkrafttreten der Verfassung am 5.10.1988 von ihrem Gebiet vertrieben wurden, kein Recht mehr auf dieses Land besitzen. Neun der elf Richter*innen des Gerichthofs stimmten gegen die Stichtagregelung. Einer davon, Richter Edson Fachin, begründete sein Urteil wie folgt:
„Wie aus dem Text der Verfassung hervorgeht, werden die ursprünglichen territorialen Rechte der [Indigenen Völker] anerkannt, aber in jedem Fall sind diese Rechte älter als die Verkündung der Verfassung.“
Durch die Stichtagsregelung hätten Indigene sämtliche Rechte auf Gebiete verloren, die ihnen vor 1988 geraubt wurden. So waren während der Militärdiktatur (1964-85) Zehntausende von Indigenen vertrieben worden.
Nun wird das Gericht in den kommenden Wochen über eine Reihe von Fragen entscheiden müssen, z. B. über eine mögliche Entschädigung der Großgrundbesitzer oder Unternehmen, die indigenes Land nach nun geltendem Recht illegal erworben haben. Zudem darf nicht vergessen werden, dass der brasilianische Kongress derzeit an einem Gesetz arbeitet, mit dem der marco temporal auf gesetzlichem Wege umgesetzt werden soll.
Situation der Guaraní Kaiowá und Verletzung des Rechts auf Nahrung
FIAN Deutschland begrüßt diese Entscheidung, die von großer Bedeutung für die Guarani Kaiowá aus Mato Grosso do Sul ist. Sie sind die drittgrößte Indigene Gruppe Brasiliens und kämpfen seit Jahrzehnten für die Anerkennung ihrer Rechte.
Nach Angaben der Volkszählung von 2022 befinden sich 63% der gesamten Indigenen Gemeinden in Mato Grosso do Sul, einem Bundesstaat, der von Soja-, Mais- und Zuckerrohranbau sowie der Viehzucht dominiert wird. Die ansässige Agrarindustrie profitiert dabei von der fehlenden Demarkierung Indigener Gebiete durch brasilianischen Staat. Der fehlende Zugang zu Land ist die Ursache für die gravierende Ernährungslage der Guaraní-Kaiowá-Gemeinden, wo 77 % der Haushalte von Ernährungsunsicherheit betroffen sind.
FIAN Deutschlands Schwestersektion in Brasilien hat zusammen mit der Fachstelle für Indigene Fragen (CIMI) ihre Lage in einen Bericht zusammgetragen. Während der Untersuchung wurden die Gemeinden Guaiviry, Ypo’i, Kurusu Ambá, Ñande Ru Marangatu und Apyka’i besucht, und die Verletzungen der Menschenrechte auf Nahrung, Wasser, Bildung und Gesundheit dokumentiert. Die Notwendigkeit ihre Territorien zu demarkieren, ist ein erster Schritt, um Verletzungen zu beheben und die Rechte dieser Völker zu garantieren. Die gerichtliche Ablehnung der Stichtagregelung ist ein wichtiger Durchbruch und ein Grund zur Hoffnung für die Guarani Kaiowá.
Guarani Kaiowá Vertreter*innen auf Europa-Tour
Aktuell sind zwei Vertreter*innen der Generalversammlung der Guarani Kaiowá, Aty Guasu, nach Europa gereist, um die Menschenrechtsverletzungen und die Untätigkeit des brasilianischen Staates anzuprangern. Inaye Lopes und Josiel Machado haben von den EU-Behörden politische Kohärenz bei ihren außen- und handelspolitischen Maßnahmen gefordert. Darüber hinaus haben sie bei ihren Treffen mit Europaabgeordneten den wahllosen Einsatz von in der EU hergestellten Pestiziden in Brasilien angeprangert, deren Verwendung in der EU aufgrund ihrer hohen Gesundheitsrisiken verboten ist. In den kommenden Tagen wird die Delegation von Aty Guasu in Begleitung von FIAN Brasilien, FIAN International und CIMI am Sitz der Vereinten Nationen in Genf sein, um ihre Forderungen nach Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft weiter vorzutragen.
Link zu FIAN Brasilien Bericht zu der Menschenrechtssituation der Guarani Kaiowá (in Englisch): https://fianbrasil.org.br/wp-content/uploads/2023/09/FIAN_SUMMARY_A4_web-2.pdf
Weitere Info zu FIANs Arbeit zu Guarani Kaiowá: https://www.fian.de/was-wir-machen/fallarbeit/kaiowa-brasilien/