Argentinien weist enorme Probleme im Zusammenhang mit ernährungsbedingten Erkrankungen auf. Auf Druck sozialer, ökologischer und gesundheitspolitischer Organisationen ist im letzten Jahr ein Gesetz in Kraft getreten, welches die Lebensmittelindustrie regulieren und gesunde Ernährung fördern soll. FIAN hat sich mit Aktivist*innen der Jugendorganisation Consciente Colectivo über die Errungenschaften des Gesetzes und die Herausforderungen bei der Umsetzung ausgetauscht. Ende November wurde der Rechtsextremist Javier Milei zum neuen Präsidenten gewählt; hierdurch wird die Implementierung voraussichtlich weiter erschwert.
Wie tief greift die Ernährungskrise in Argentinien?
Offizielle Zahlen belegen, dass drei Millionen Menschen, etwa sieben Prozent der Bevölkerung, von schwerer Ernährungsunsicherheit und fast acht Millionen Menschen (19 Prozent) von mäßiger Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Die Ernährungskrise drückt sich nicht nur in Hunger und einem wirtschaftlich schwierigen Zugang zu Nahrungsmitteln aus, sondern auch in ernsten Gesundheitsproblemen: Schlechte Ernährung ist die Hauptursache für chronische Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Bluthochdruck oder Herz- und Gefäßkrankheiten. Diese verursachen allein in Argentinien 640 Todesfälle pro Tag.
Argentinien ist das drittgrößte Land Lateinamerikas und hat den höchsten Verbrauch an ultraverarbeiteten Lebensmitteln. Auch gehört Argentinien zu den Ländern mit dem weltweit größten Verbrauch an zuckerhaltigen Getränken; zugleich verzehren nur sechs Prozent der Bevölkerung die empfohlene tägliche Menge an Obst und Gemüse. Schlechte Ernährung ist somit in allen sozioökonomischen Milieus anzutreffen.
Schlechte Ernährung ist auch ein Risikofaktor für Übergewicht. Besonders gefährdet sind Jugendliche aus benachteiligten Haushalten. UNICEF und die Gesellschaft zum Schutz des Herzens (Fundación InterAmericana del Corazón) kommen zu dem Schluss, dass „die Hauptursache für das Problem der Mangelernährung nicht in einer fehlenden Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln liegt, sondern im Gegenteil in einem Überangebot an Nahrungsmitteln von schlechter Nährstoffqualität“.
Woher kommt die Dominanz der Lebensmittelindustrie?
Um den Verbrauch anzukurbeln, wendet die Industrie verschiedene Strategien an. Eine davon ist irreführende Werbung, die von der Industrie in großem Umfang eingesetzt wird. Im Vergleich zu Erwachsenen konsumieren Kinder und Jugendliche 40 Prozent mehr zuckerhaltige Getränke, dreimal so viele Süßigkeiten und doppelt so viele Backwaren oder Snacks. Fast acht von zehn Kindern gaben an, bei der Nutzung sozialer Medien sehr stark von Werbung beeinflusst zu werden. Kinder sind pro Woche mehr als 60 irreführenden Werbebotschaften ausgesetzt.
Eine weitere auf Kinder und Jugendliche ausgerichtete Strategie ist die Einmischung der Industrie in das schulische Umfeld. Der Nationale Ernährungs- und Gesundheitssurvey 2019 weist auf die ernste Situation hin und kritisiert das Fehlen von Vorschriften scharf.
Auch der Staat ist von der Einmischung der Industrie nicht verschont geblieben. Bei öffentlichen Ankäufen, um Lebensmittelpakete an Stadtviertel, Schulen, Kantinen und Suppenküchen zu liefern, können wir feststellen, dass die Auswahl meist aus ultraverarbeiteten Produkten besteht, was die Gesundheit und die Ernährungsqualität der schwächsten Bevölkerungsgruppen beeinträchtigt.
Gleichzeitig wissen nur 13 Prozent der Bevölkerung, wie man Nährwerttabellen liest. Mangelnde Information, ein schlechtes Angebot an gesunden Lebensmitteln, irreführende Werbung und die Einmischung der Industrie machen es uns unmöglich, gesunde Lebensmittel von solchen zu unterscheiden, die ein Übermaß an kritischen Nährstoffen enthalten. Dies ist von zentraler Bedeutung, um zu verstehen, warum das Gesetz zur Förderung gesunder Ernährung geschaffen wurde: Es ist ein rechtliches Instrument, das Teil einer umfassenderen öffentlichen Politik ist, deren Hauptziel darin besteht, Todesfälle in Verbindung mit schlechter Ernährung zu verhindern.
Wie will das Gesetz das erreichen?
Indem es genau an den Ursachen ansetzt: Erstens soll der Überschuss an kritischen Nährstoffen durch sichtbare schwarze Etiketten markiert werden. Zweitens sieht das Gesetz die Regulierung von Werbung, Verkaufsförderung und Sponsoring für ungesunde Produkte vor, die sich direkt an Kinder und Jugendliche richten. Die Industrie darf keine Cartoons, Zeichentrickfiguren oder Prominente in der Werbung für Produkte verwenden, die einen hohen Anteil an ungesunden Nährstoffen aufweisen und von dieser Altersgruppe konsumiert werden. Drittens wird das schulische Umfeld reguliert, so dass Produkte, die eine Etikettierung enthalten, nicht in Schulen verkauft werden dürfen. Und viertens fordert das Gesetz die Regulierung des öffentlichen Beschaffungswesens durch den Staat. Das Ziel ist, dass eine gesunde Ernährung nicht nur ein Privileg für diejenigen sein sollte, die es sich leisten können.
Ihr findet, dass das Gesetz ein Modell ist, dem man weltweit folgen sollte. Warum?
Zunächst einmal, weil es auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, frei von Interessenkonflikten ist und ohne Kooptierung der Industrie entstanden ist. Ein gutes Beispiel ist das Nährwertprofil, denn das Gesetz übernimmt die Empfehlung der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO), einer auf Gesundheit spezialisierten Einrichtung des interamerikanischen Systems. Bei den Warnhinweisen handelt es sich um leicht lesbare, gut sichtbare schwarze Achtecke, die nicht missverstanden werden können und da sie Verkehrsschildern ähneln, schnell die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auf diese Weise können die Verbraucher*innen bessere Kaufentscheidungen treffen, da sie über klare und einfache Informationen verfügen.
Die anderen Säulen des Gesetzes, das heißt die Regulierung von Werbung, des schulischen Umfelds, des öffentlichen Beschaffungswesens und der staatlichen Nahrungsmittelhilfe, zeigen, dass das Gesetz weit über die Lebensmittelkennzeichnung hinausgeht. Es soll die Gesundheit der gesamten Bevölkerung und insbesondere der Gruppen schützen, die am meisten von ungesunder Ernährung betroffen sind, also Kinder und Jugendliche sowie die ärmsten Bevölkerungsschichten.
Welche Bündnisse und Advocacy-Strategien waren für die Verabschiedung zentral?
Zunächst haben wir verbündete Akteure identifiziert. Dabei stellten wir fest, dass es vor allem im Gesundheitsbereich eine Vielzahl von Organisationen gibt, die zu diesem Thema arbeiten. Anschließend haben wir über verschiedene Kommunikations- und Sensibilisierungskampagnen und Aktionen im öffentlichen Raum auf den Gesetzgebungsprozess eingewirkt. Zudem haben wir mit der digitalen Plattform „Aktiviere den Kongress“ eine konkrete Möglichkeit der Bürger*innenbeteiligung geschaffen: Über die Plattform konnte man die Position aller Abgeordneten in Erfahrung bringen. Diejenigen Abgeordneten, die gegen das Gesetz waren, konnten aufgefordert werden, sich für das Gesetz auszusprechen, indem man ihnen eine vorbereitete Nachricht per E-Mail, Twitter oder Facebook schickte.
Wie läuft die Umsetzung und welche Herausforderungen ergeben sich?
Derzeit ist der Umsetzungsprozess in vollem Gange. Dies ist eine große Herausforderung aufgrund unseres föderalen Regierungssystems, in dem die Provinzen die Gesetze mit ihren Vorschriften in Einklang bringen müssen. Diese Prozesse sind sehr langwierig und bürokratisch, und es gibt kaum Kontrollmöglichkeiten für eine wirksame Umsetzung. Was wir bisher am konkretesten von der Umsetzung sehen, sind Produkte mit Warnstempeln in Supermärkten, Lebensmittelgeschäften und Kiosken.
Aber wir stellen auch Verstöße fest. Gemeinsam mit anderen Organisationen haben wir daher eine Kampagne mit dem Titel „no lo dejemos pasar“ (wir lassen es nicht durchgehen) ins Leben gerufen, damit die Verbraucher*innen Verstöße melden können. Ziel ist es, die Bürger*innen in die Lage zu versetzen, die Gesetze um- und durchzusetzen, wenn der Staat versagt.
Denn wir sagen: Ein anderes Modell ist möglich. Ernährungssouveränität ist die Möglichkeit, Lebensmittel ohne das Aufzwingen eines globalen Modells zu produzieren und sich für eine nachhaltige Form der Produktion unter sozial-ökologischen Gesichtspunkten zu entscheiden, unter Beteiligung der Bürger*innen und unter Einbeziehung vernachlässigter Sektoren. Der Zugang zu angemessenen, gesunden und schadstofffreien Lebensmitteln sollte ein garantiertes Recht sein und nicht ein Geschäft, das sich auf einige wenige Unternehmen konzentriert, die sich an den von ihnen nicht gedeckten Umwelt- und Gesundheitskosten bereichern.
Consciente Colectivo (deutsch: kollektives Bewusstsein) ist eine sozial-ökologische Jugendorganisation aus Argentinien, welche sich für Ernährungssouveränität einsetzt. https://consciente-colectivo.com.ar
Fragen, Übersetzung und Bearbeitung: Marian Henn
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem neuen FoodFirst, das FIAN-Mitgliedermagazin. Sie sind neugierig auf weitere spannende Artikel geworden? Das FoodFirst-Magazin können Sie hier abonnieren. Oder sichern Sie sich ein kostenloses Probeexemplar in gedruckter Form. Schreiben Sie einfach eine E-Mail an info@fian.de.
Artikel als PDF: Argentinien: Gesetz für gesunde Ernährung als internationales Vorbild