miterago: Dass Menschen wirtschaften und über den eigenen Bedarf hinaus Rohstoffe gewinnen, Dinge produzieren und Handel treiben, wird historisch als Motor der Menschheitsgeschichte und als eine positive Errungenschaft beschrieben. Zur Geschichte der Wirtschaft zählen aber auch menschenverachtende Kapitel wie Leibeigenschaft, Sklavenarbeit, Kinderarbeit und Verelendung der Arbeiterklasse. Mit der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“haben die Vereinten Nationen 1948 das Recht eines jeden auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet und das Recht auf Bildung erklärt. Wie ist die Situation der Menschen in Produktionsprozessen insbesondere bei globalen Lieferketten heute einzuschätzen?
Gertrud Falk: Viele Arbeiter*innen in globalen Lieferketten sind entrechtet. Sie arbeiten für Hungerlöhne, ohne Gesundheits- und Mutterschutz. Insbesondere Arbeiter*innen am Beginn solcher Lieferketten in Ländern des globalen Südens sind von ausbeuterischen Praktiken betroffen. Beispielsweise gibt es auf den Kakaoplantagen in Westafrika regelmäßig Kinderarbeit – eine Folge viel zu niedriger Löhne, die nicht existenzsichernd sind. In Textilfabriken Südostasiens werden Frauen zu unbezahlten Überstunden gezwungen, indem Türen der Fabriken abgeschlossen werden. Dadurch sind bei Feuerausbrüchen in Fabriken in den letzten Jahren viele Arbeiterinnen verbrannt. Ein Beispiel hierfür ist die Fabrik Ali Enterprises in Pakistan, bei deren Brand im September 2012 258 Menschen ums Leben kamen. Von Bananenplantagen in Südamerika wissen wir, dass die Arbeiter*innen ungeschützt Pestiziden ausgesetzt sind. Oft werden sie vorab nicht über die Besprühungen aus Flugzeugen informiert. Aber auch wenn sie informiert werden, sehen sie sich aufgrund des niedrigen Akkordlohns gezwungen, weiter zu arbeiten. Begünstigt werden diese Menschenrechtsverletzungen durch ungünstige Gewerkschaftsgesetze, die es Unternehmen leicht machen zu verhindern, dass die Belegschaft Betriebsräte gründet.
miterago: Im Jahr 2011 haben die Vereinten Nationen und die OECD mit den „Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“ und den „Leitsätzen für multinationale Unternehmen“ versucht, Unternehmen zur Einhaltung der Menschenrechte und Umweltstandards auch in den Zulieferketten zu verpflichten. Hat dies zu einer verbesserten Lage der Arbeiter*Innen geführt?
Gertrud Falk: Diese Leitprinzipien haben leider nicht viel bewirkt, weil sie freiwillig und für Beschwerdeführer*innen oft nicht zugänglich sind. Darüber hinaus wird ihre Umsetzung durch einzelne Staaten nicht ausreichend von internationalen Organisationen oder der internationalen Staatengemeinschaft geprüft. Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte enthalten menschenrechtliche Anforderungen an Wirtschaftsunternehmen und Staaten, verlangen aber weder ein Kontrollgremium noch eine Berichtspflicht. Zivilgesellschaftliche Organisationen können zwar Beschwerden gegen Missachtungen der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen einreichen, aber nur fünf von 48 Staaten haben Sanktionen für Unternehmen festgelegt, die sich weigern, an den Verfahren teilzunehmen. Nur 14 von 48 Regierungen ermöglichen, dass die Mediationsverfahren entweder an Orten, die die Beschwerdeführer*innen problemlos aufsuchen können, oder per Video-Konferenz durchgeführt werden. In 36 von 48 Staaten sind die Beschwerdestellen innerhalb Regierungsstellen zur Wirtschaft oder Handel angesiedelt. Dadurch kommt es oft zu Interessenkonflikten der Beschwerdestellen zulasten der Beschwerdeführer*innen. Dies habe ich auch in einem Fall bei der deutschen Beschwerdestelle erlebt.
miterago: In Deutschland erfolgte die politische Umsetzung der internationalen Leitlinien erst im Jahr 2016 mit dem auf freiwilligen Maßnahmen beruhenden „Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte“. Sehr viele Unternehmen haben diesen Aktionsplan aber nicht konsequent umgesetzt.
Gertrud Falk: Das Ergebnis der Evaluation der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans durch die Bundesregierung hat die zivilgesellschaftlichen Prognosen leider bestätigt. Nur etwa 15 Prozent der untersuchten Unternehmen haben die UN-Leitprinzipien in nennenswerter Weise umgesetzt. Ein Schlag ins Gesicht der Bundesregierung, die entgegen der gut begründeten Argumente vieler Expert*innen die Umsetzung dieser Leitprinzipien nicht verpflichtend gestaltet hat.
miterago: Die Produktion von Gütern oder die Förderung von Rohstoffen ist immer auch mit sozialen Anforderungen und Verpflichtungen für die Menschen vor Ort verbunden. Von Unternehmensseite wird oft argumentiert, dass sie die Einhaltung von Normen und Gesetzen bei ihren Zulieferern von den Auftraggebern nicht überprüfen können. Ist dem wirklich so und kann die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltvorgaben damit nur als eine national-hoheitliche Aufgabe gesehen werden?
Gertrud Falk: Unternehmen in Industriestaaten schaffen es, die Beschaffenheit der Produkte, die sie über internationale Lieferketten erhalten, sehr genau festzulegen und dies auch zu kontrollieren. Dass ihnen dies bei den Arbeitsbedingungen in den Zulieferketten unmöglich sein soll, ist daher unglaubwürdig. Es ist im Gegenteil oft sogar so, dass sie aufgrund ihrer Marktstellung die Zulieferer mit niedrigen Preisen unter Druck setzen, immer billiger zu produzieren. Wenn zum Beispiel, wie im Lebensmitteleinzelhandel, nur wenige Unternehmen den Markt beherrschen, müssen sich Zulieferer deren Konditionen und niedrigen Preisen beugen. Da Kosten des Materials oft nicht im ausreichenden Maß verhandelt werden könnten, wird dieser Druck an die Beschäftigten weitergegeben. Das führt zu Lohnkürzungen, unbezahlten Überstunden, Streichung von Urlaub und Gesundheitsschutz entlang der Lieferkette. Menschenrechte gelten aber global und überall gleichermaßen. Staaten sind daher auch über ihre Grenzen hinweg dazu verpflichtet sie zu respektieren, zu schützen und zu verwirklichen. Dazu gehört, Aktivitäten von Unternehmen im Ausland zu regulieren und – wenn nötig – zu sanktionieren.
miterago: Und deswegen brauchen wir jetzt doch ein Lieferkettengesetzt. Wo müssen die Unternehmen besonders in die Pflicht genommen werden?
Gertrud Falk: Unternehmen müssen entlang ihrer gesamten Zulieferkette ihre Sorgfaltspflichten wahrnehmen und regelmäßig Menschenrechts- und Umweltrisiken prüfen. Die Ergebnisse dieser Analysen müssen sie veröffentlichen. Weiterhin müssen sie Beschwerdeverfahren einrichten, die auch von Arbeiter*innen am Anfang globaler Lieferketten tatsächlich genutzt werden können. Darüber müssen sie diese Arbeiter*innen auf verständliche Weise informieren. Wichtig ist außerdem die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit in Lieferketten, zum Beispiel durch garantierten Mutterschutz oder ein klares Vorgehen gegen sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz sowie gleiche Löhne. Das Gesetz sollte sich nicht nur auf Arbeitsrechtsverletzungen beschränken, sondern auch auf Menschenrechtsverletzungen an der Bevölkerung im Umfeld der Produktionsstätten. Ich kenne viele Fälle, in denen Menschen im globalen Süden aus ihren Dörfern vertrieben wurden, damit Agrarinvestoren auf dem Land Plantagen für exportorientierte Landwirtschaft angelegen konnten. In diesen Fällen muss ein Lieferkettengesetz auch greifen. Sorgfaltspflichten müssen in Sektoren mit besonderen Risiken auch für kleinere Unternehmen gelten, zum Beispiel in den Rohstoff- und Textilsektoren. Der Staat muss wirksame Sanktionen verhängen können, zum Beispiel durch einen Ausschluss von der öffentlichen Beschaffung und der Außenwirtschaftsförderung. Damit ein Lieferkettengesetz wirklich greift, müssen Unternehmen darüber hinaus auch zivilrechtlich für Schäden haftbar gemacht werden können.
miterago: Und 2021 wurde von den Vereinten Nationen als das Internationale Jahr zur Beseitigung der Kinderarbeit ausgerufen. Ein umfassendes und aussagekräftiges Lieferkettengesetz in Deutschland wäre doch endlich ein wichtiges Signal für eine Wende und ein angemessener Beitrag dazu.
Gertrud Falk: Ja, das wäre es. Doch leider fällt der Entwurf der Bundesregierung weit hinter den Kriterien für ein wirksames Lieferkettengesetz zurück. Es soll nur für Unternehmen mit mindestens eintausend Beschäftigten gelten. Diese sollen Risikoanalysen nur für ihre direkten Zulieferer durchführen. Der Entwurf schließt nur sehr wenige und spezielle Umweltrisiken ein und sieht keine zivilrechtliche Haftung vor. Weder wird die Zahlung existenzsichernder Löhne noch Geschlechtergerechtigkeit gefordert. Mit diesem Entwurf verspielt die Bundesregierung ihre Möglichkeit, Menschenrechte und Umweltschutz in globalen Lieferketten zu stärken und zu schützen. Die Aufmerksamkeit ist nun auf den Bundestag gerichtet, der den Entwurf ändern kann und das Gesetz beschließen muss. Doch die Wirtschaftsverbände sind aktiv und versuchen auf die Parlamentarier*innen Einfluss zu nehmen und den schwachen Regierungsentwurf noch weiter zu schwächen. Dem treten die Unterstützer*innen eines wirksamen Lieferkettengesetzes mit starken Argumenten entgegen. Ich hoffe, dass sich die Mehrheit der Abgeordneten nicht von den Unternehmensverbänden blenden lässt.
miterago: Bei kurzen lokalen oder regionalen Lieferketten kann ich mich als Verbraucher oft über Produktionsbedingungen informieren und eine „soziale Kontrolle“ ausüben. Ein Kleidungsstück aus Baumwolle hat mitunter eine Weltumrundung hinter sich, weil Anbau, Ernteverarbeitung, Spinnen, Weben, Färben, Ausrüsten, Zuschneiden, Nähen und in den Handel bringen an ganz verschiedenen Produktionsstätten rund um den Globus stattfinden. Hier bin ich als Käufer überfordert, Menschenrechtsverletzungen oder Umweltschädigungen bei der Herstellung der Produkte zu erkennen. Was kann ich tun?
Gertrud Falk: Setzen Sie sich bei den Bundestagsabgeordneten für ein wirksames Lieferkettengesetz ein! Das ist das wirksamste, was Sie jetzt tun können. Wir brauchen eine öffentliche und staatliche Kontrolle globaler Produktionsketten. Es gibt zwar auch private Gütesiegel, aber die werden in der Regel nicht kontrolliert und geraten schnell in Interessenskonflikte, weil sie von den Aufträgen der Unternehmen abhängig sind. Ein trauriges Beispiel dafür ist die Katastrophe in Brumadinho im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. Dort ist im Januar 2019 der Damm des Rückhaltebeckens einer Eisenerzmine gebrochen. Die daraufhin auslaufende, giftige Schlammlawine hat mindestens 259 Menschen den Tod gebracht. Im September 2018 hatte der TÜV Süd den Damm geprüft und wider besseres Wissen dessen Stabilität bestätigt. Regelmäßiger Auftraggeber des TÜV Süd war das Bergbauunternehmen.
miterago: Hersteller sind verpflichtet, Gewährleistung der Qualität abzugeben, immer mehr nutzen zudem Produktsiegel und verweisen auf ihre Webseiten, die z.B. eine faire Produktionsweise beschreiben. Aber niedrige Preise für Produkte lassen an eine „Schuldvermutung“ denken. Sollten öffentliche Angaben über Einhaltung von Menschenrechten und umweltverträglicher Produktion in ihren Lieferketten verpflichtend werden?
Gertrud Falk: Ja, je transparenter die Produktionsbedingungen für die Öffentlichkeit gemacht werden, desto informierter können Verbraucher*innen entscheiden, was sie kaufen. Und desto mehr fühlen sich Unternehmen unter Druck, Menschenrechte einzuhalten und die Umwelt zu schützen. Diese öffentlichen Angaben müssen aber Teil eines wirksamen Lieferkettengesetzes sein. Denn in manchen Sektoren gibt es nur so wenige Anbieter, dass Verbraucher*innen kaum oder gar keine Möglichkeiten haben, auf solche auszuweichen, die Menschenrechte und Umwelt schützen. Außerdem werden bestimmte Produktionsweisen durch staatliche Anreize gefördert. Sehr deutlich ist dies im Agrarsektor, der von der EU subventioniert wird. Bisher wurde zu 80 Prozent ausschließlich nach Größe der bewirtschafteten Fläche gefördert und nur zu einem geringen Anteil nach ökologischen und sozialen Kriterien. Das hat massiv zur Umweltzerstörung beigetragen, mit der wir heute konfrontiert sind.
miterago: Vielen Dank für die umfangreichen Informationen zu diesem komplexen Thema.
Gertrud Falk: Vielen Dank, dass Sie mir hier ein Forum für dieses wichtige Anliegen geben. Menschenrechte werden nur dann real, wenn wir sie gemeinsam einfordern.
Das Interview ist bei miterago.de erschienen: https://miterago.de/im-gespraech/wirtschaft-und-menschenrechte-1002