Dass trotz Corona bei uns kein Mangel herrscht, hat mit der Not im globalen Süden zu tun. Das ginge anders. Eine realistische Utopie von Kathrin Hartmann.
Der Holzkahn tuckerte den trüben Fluss hinunter, vorbei an brackigen Wasserbecken, die sich bis zum wolkenverhangenen Horizont zogen. Dazwischen, auf den nackten Lehmdämmen, standen ärmliche Hütten. Upazila Paikgacha, Khulna District. Die Küstenregion im Südwesten von Bangladesch ist das Zentrum der Garnelenzucht. Auf einer Fläche der Größe Teneriffas werden diese Tiere in Aquakulturen gezüchtet, Salzwasserbecken an Land und an der Küste. Neben Textilien gehören Shrimps zu den wichtigsten Exportgütern des Landes, sie landen in den Restaurants und Supermärkten in Europa, Japan und den USA. 2014 habe ich die Apokalypse aus Matsch mit Badrul Alam und Sebina Yesmin von der Kleinbäuerinnen- und Kleinbauernbewegung „Krishok Federation and Kishani Sobha“ besucht.
Das Boot stoppte im Morast von Polder 20. So heißen die eingedeichten Gelände, auf denen neben Krustentieren auch Menschen leben. An der Anlegestelle stand eine Handvoll Männer, müde blickten sie auf den Fluss, hinter ihnen leere Matschsenken, aufgegebene Zuchten. „Nichts wächst hier mehr, keine Gemüse, keine Bäume, kein Gras für die Kühe“, sagte einer der Männer. Das Salzwasser für die Aquakulturen habe die Böden ruiniert, die Garnelen seien an Viren gestorben. „Wir haben gekämpft gegen die Shrimps, aber der Kampf ist verloren. Wir wissen nicht mehr, wovon wir leben sollen.“
Nur eine Viertelstunde später standen wir in einer anderen Welt. Schafe und Ziegen fraßen sich an leuchtend grünem Gras auf Dämmen satt, Palmen und Obstbäume bildeten ein dichtes Dach. Enten und Gänse schnatterten in kleinen Teichen, vor den Hütten reihten sich üppige Gemüsegärten. Nur eines gab es hier nicht: Garnelen. Dagegen hatten die Bewohner unter großen Opfern gekämpft. Heute muss niemand hungern auf dieser Insel, die sich selbst versorgt. Sie hat schwere Unwetter unbeschadet überstanden, und es gibt drei Schulen hier. Dieses Paradies, in und von dem 7000 Menschen leben, befand sich nur wenige Bootsminuten schräg gegenüber der Hölle aus Matsch auf der anderen Seite des Flusses.
„Nichts wächst hier mehr, keine Gemüse, keine Bäume, kein Gras für die Kühe“
Das eine der beiden Konzepte halten die reichen Länder des Nordens für geeignet, die Welternährung zu sichern. Infolge der Strukturanpassung und der Handelsliberalisierung in den Achtziger- und Neunzigerjahren pumpten Weltbank, Internationaler Währungsfonds (IWF), die UN-Ernährungsorganisation FAO und die US-Entwicklungsorganisation UNDP Milliarden Dollar in den Ausbau der exportorientierten Aquakultur. Sie sollte Devisen und Wohlstand ins Land bringen. Gebracht hat sie nur Hunger und Leid. Großflächig wurden Mangroven abgeholzt und fehlen dem klimawandelgeplagten Land als Schutz vor Überschwemmungen. Reis- und Gemüsefelder wurden den Zuchtbecken geopfert, das Salzwasser ruinierte Böden und verschlechterte die Ernten. Bäuerinnen und Bauern wurden gewaltsam ihres Landes beraubt, mehr als 150 Landlose, Aktivistinnen und Journalisten wurden in ihrem Kampf gegen die Aquakultur umgebracht.
Ähnliche Bilder der Zerstörung habe ich in Indonesien gesehen, wo sich die Palmöl-Monokulturen ausbreiten und Wälder, Land und Lebensgrundlage zunichtegemacht haben. Oder in Brasilien, wo sich triste Felder genmanipulierten Sojas schier endlos aneinanderreihen. Kultiviert werden diese Cash Crops fast ausschließlich für den Export in die reichen Länder des Nordens. Vorangetrieben wird die Ausbreitung solcher Anpflanzungen von multinationalen Agrarkonzernen, von Spekulanten und Finanzinvestoren sowie von neoliberaler Entwicklungshilfe und erpresserischen Handelsabkommen.
Das Welternährungssystem, das dominiert wird von Profitinteressen der Agrar- und Lebensmittelindustrie, kann die Welt nicht ausreichend versorgen
Die Europäische Union hat eine fatale Rolle in diesem ungerechten Spiel. Sie okkupiert für Konsumgüter aus landwirtschaftlicher Produktion anderswo in der Welt eine Fläche, die eineinhalbmal größer ist als alle 28 Mitgliedstaaten zusammen. Deutschland kauft jährlich landwirtschaftliche Produkte wie Obst, Gemüse, Palmöl und Soja, die andernorts mehr als die doppelte Menge der Fläche des Landes beanspruchen. Deutschland ist der drittgrößte Importeur von Agrarprodukten der Welt. Insbesondere von Obst und Gemüse, das hier nur auf einem Bruchteil der landwirtschaftlichen Flächen angebaut wird.
Dabei könnte sich dieses Land fast komplett selbst mit Essen versorgen. Der Selbstversorgungsgrad mit Lebensmitteln, die hier angebaut werden können, liegt laut dem Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung (BMEL) bei 93 Prozent. Theoretisch. Praktisch sind die Äcker hier für die Produktion von Fleisch reserviert, das in immer größeren Mengen exportiert wird. Um die 200 Millionen Tiere zu versorgen, werden auf zwei Dritteln der landwirtschaftlichen Fläche Futtermittel für sie angebaut. Aber selbst dieses Futter reicht nicht aus, weswegen Deutschland jedes Jahr auch noch rund vier Millionen Tonnen Futtersoja aus Lateinamerika und den USA importiert.
Das Welternährungssystem, das dominiert wird von Profitinteressen der Agrar- und Lebensmittelindustrie, kann die Welt nicht ausreichend versorgen. Noch immer leiden mehr als 800 Millionen Menschen an Hunger, zwei Milliarden sind mangelernährt. Monokulturen und gentechnisch verändertes Saatgut, die große Mengen von Pestiziden brauchen, zerstören Böden und Artenvielfalt. Die Klimakrise setzt der Landwirtschaft mit langanhaltenden Dürren zu: Aktuell droht dem südlichen Afrika eine Hungersnot nie gekannten Ausmaßes. Jetzt sieht die Expertengruppe des UN-Welternährungsrats „Committee on World Food Security“ (CFS) deutliche Anzeichen dafür, dass sich die Corona-Pandemie zu einer Welternährungskrise ausweitet.
Doch hierzulande verspricht Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner, man werde in Deutschland nicht verhungern. Der Nachschub an Billigstarbeiterinnen für die deutsche Ernte ist ja gesichert. Noch darf man sich darauf verlassen, dass Sklaven im globalen Süden, aber auch in spanischen oder italienischen Gewächshäusern und Plantagen schuften. Aber wie lange noch? Schließlich sind die afrikanischen Migrantinnen und Migranten ohne Papiere, die dort unter furchtbaren Bedingungen arbeiten, dem Virus schutz- und rechtlos ausgeliefert.
Corona zeigt, wie krisenanfällig das kapitalistische System für so existenzielle Dinge wie die Gesundheits- und Ernährungsversorgung ist. Dabei gibt es ja Alternativen: etwa das Konzept der Ernährungssouveränität, für das weltweit Hunderte Millionen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern kämpfen. Dahinter steckt eine ökologisch und sozial gerechte Landwirtschaft, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und von diesen bestimmt wird. Eine, die nicht Wachstum und Export in den Mittelpunkt stellt, sondern den lokalen Anbau und Handel.
Bereits vor zwölf Jahren belegte der Weltagrarbericht, erstellt von rund 500 Expertinnen und Wissenschaftlern im Auftrag von UN und Weltbank, dass der Schlüssel zur Hungerbekämpfung in einer kleinteiligen, regionalen, agrarökologischen Landwirtschaft läge. Wissenschaftlich ist belegt, das agrarökologischer Anbau mit lokalem Saatgut und ohne Chemie im Vergleich zur industrialisierten Landwirtschaft viel höhere Erträge bringt und weniger Wasser verbraucht. Er schützt Biodiversität und Klima, verursacht keine Lebensmittelabfälle, sorgt für mehr gute Arbeit und für Geschlechtergerechtigkeit.
Beispiele wie das Paradies in Bangladesch habe ich oft gesehen: in Indonesien, wo ich eines der letzten Walddörfer auf Borneo besucht habe. Den Menschen dort war es gelungen, ihren Wald und ihre traditionellen Gärten darin vor der Palmölindustrie zu schützen. In Brasilien machten Indigene, die sich ihr gestohlenes Land von den Rinderfarmern und Sojabaronen zurückgeholt haben, dieses wieder urbar.
In Griechenland versorgen „Märkte ohne Mittelsmänner“ und Essenskooperativen ein Viertel aller Haushalte mit mehreren Tonnen Essen pro Jahr
In Deutschland wird Ernährungssouveränität in knapp 300 Solidarischen Landwirtschaften gelebt. Hier werden die Lebensmittel nicht über den Markt vertrieben, die Produktion wird gemeinsam von Bäuerinnen, Gärtnern, Bürgerinnen und Bürgern organisiert und finanziert. Das sorgt nicht nur für Unabhängigkeit, bessere Preise und Einkommen, sondern auch für Wissen, Ernährungsvielfalt, Naturschutz – und es stärkt den sozialen Zusammenhalt.
Gerade in den sogenannten Krisenländern Europas ist diese Form der Nahrungsversorgung gewachsen. In Griechenland versorgen „Märkte ohne Mittelsmänner“ und Essenskooperativen ein Viertel aller Haushalte mit mehreren Tonnen Essen pro Jahr. Die Solidarische Bewegung dort versteht dies nicht als Notversorgung, sondern als Alternative zum herrschenden System. In Berlin zeigt das Projekt „2000 m² Weltacker“ der Zukunftsstiftung Landwirtschaft, wie eine global gerechte Ernährung aussehen würde. Dafür stünden jedem Erdenbürger 2000 Quadratmeter zu. Doch laut FAO können die Kalorien, die auf dieser Fläche produziert werden, zwölf Milliarden Menschen satt machen. Das geht jedoch nicht, wenn, wie heute, auf einem Drittel der Äcker weltweit Tierfutter angepflanzt wird. Und wenn auf den Feldern statt Essen Energiepflanzen wachsen, damit noch mehr Autos herumfahren können.
Ernährungssouveränität ist kein nationalistisches und autoritäres Projekt, sondern ein globales und demokratisches. Ändert sich unsere Landwirtschaft nicht, kann sie auch im globalen Süden nicht umgesetzt werden. Das bedeutet zuallererst eine Abkehr von einer intensiven Landwirtschaft mit Monokulturen, Pestiziden und Düngern, von der wachsenden Fleischproduktion hin zu einer kleinteiligen ökologischen Produktion.
Damit sie nicht in der Nische bleibt, sondern Standard wird, müssen wir dies als politische Aufgabe sehen und umso drängender fragen: Wer verhindert diese Alternativen? Wer profitiert davon, dass alles bleibt, wie es ist? Da wären die EU-Agrarhilfen, die umso üppiger ausfallen, je größer die Fläche der bäuerlichen Betriebe ist. Das bestraft kleine Höfe, die gut anbauen wollen, und belohnt die industrielle Produktion trotz der Schäden, die sie auf Kosten der Allgemeinheit anrichtet. Dafür hat die Agrarlobby gekämpft, Bauernverband und Chemieindustrie haben auch in Deutschland zu großen Einfluss auf die Politik. Dagegen müssen wir kämpfen. Auch für eine Entwicklungshilfe, die statt Agrarkonzernen Agrarökologie fördert. Und für eine Verkehrswende, die den Irrsinn Biosprit obsolet macht.
Für eine solche ökologische und soziale Transformation der Landwirtschaft gibt es gesellschaftliche Mehrheiten – das zeigt nicht zuletzt die Bewegung „Wir haben es satt“ für eine andere Landwirtschaft, die zur Grünen Woche jedes Jahr Zigtausende dafür auf die Straße bringt. Gutes Essen für alle ist eine Utopie, die wir Wirklichkeit werden lassen können, wenn wir solidarisch mit den Bewegungen des Südens dafür kämpfen.
Kathrin Hartmann lebt als Journalistin und Buchautorin in München. Aktuell hat sie das Buch „Grüner wird’s nicht – Warum wir mit der ökologischen Krise völlig falsch umgehen“ veröffentlicht.