B’Tselem – das israelische Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten – hat einen deutlichen Anstieg von Übergriffen durch Siedler auf Palästinenser/innen in der Westbank dokumentiert. Während es im Januar und Februar elf respektive zwölf solcher Übergriffe gab, waren es im März 24 und im April 27 Fälle. B’Tselem bezieht sich dabei auf ernsthafte physische Übergriffe, in denen entweder Menschen direkt angegriffen oder ganze Olivenbaumfelder vernichtet wurden. „Kleinere“ Zwischenfälle, wie etwa Einschüchterungen palästinensischer Schafhirten durch Siedler, sind so alltäglich, dass sie in dieser Falldokumentation nicht aufgeführt wurden.
Üblich wäre nun, die „schützende Präsenz“ durch israelische und internationale Beobachter zu erhöhen und vor allem für die israelische Öffentlichkeit direkte Besuche vor Ort in der Westbank möglich zu machen. Dies ist aufgrund der Corona-bedingten Reisebeschränkungen zur Zeit nicht möglich. Deshalb berichteten Vertreter/innen von B’Tselem, der israelischen Organisation Breaking the Silence und Vertreter/innen der betroffenen palästinensischen Dörfer Anfang Mai in einem Online-Seminar über die Situation.
Nach ihrer Einschätzung haben verschiedene Faktoren zum Anstieg der Übergriffe beigetragen: Die Einschränkung des öffentlichen Lebens aufgrund von Corona führt gerade im ländlichen Raum dazu, dass es auf den Feldern sehr einsam geworden ist. Wer draußen ist, ist allein und damit auch im Fall eines Übergriffs vergleichsweise verletzbar. Eingespielte gewaltfreie Unterstützungsmechanismen, wie die „schützende Präsenz“ durch israelische und internationale Aktivist/innen sind ebenfalls unmöglich.
Gleichzeitig sind auch in den israelischen Siedlungen die Schulen geschlossen, die Menschen gehen nicht zur Arbeit, ganze Siedlungen befinden sich in sogenannter „Selbstisolation“, um eine mögliche Ausbreitung des Virus zu verhindern. Trotzdem verweist „Breaking the Silence“ im Online-Seminar deutlich darauf, dass die Übergriffe nicht auf Kurzschlusshandlungen Einzelner reduziert werden können. Vielmehr handele es sich um eine „institutionalisierte mangelnde Strafverfolgung von Siedlergewalt“. So waren beispielsweise während fünf von acht Attacken auf palästinensische Häuser im März 2020 israelische Soldaten vor Ort präsent, ohne die Angriffe zu unterbinden.
Auch die wirtschaftliche Grundlage der palästinensischen Olivenfarmer leidet massiv: Allein im April wurden Hunderte von Olivenbäumen durch Siedler zerstört und entwurzelt. Dazu zählen unter anderem 180 Bäume in Turmusaya and al-Mughayir, 30 in Qaryut, 50 in Ras Karkar, 15 in a-Tuwani und viele mehr in al-Khader. Dadurch fehlt zum einen der direkte Ernteertrag dieser Bäume im laufenden Jahr, zum anderen müssen die Bäume selbst ersetzt werden. Für gute Bäume, die bereits 35 und mehr Jahre alt sind, bedeutet dies Ernteausfälle für die kommenden 20 Jahre. Erst dann werden die nachgesetzten Bäume wieder die gleiche Leistung erbringen und damit zum Familieneinkommen beitragen. Die verschärfte Bewegungseinschränkung aufgrund der Corona-Krise hat für die Olivenfarmer somit auch langfristige Folgen, die weit über den akuten Anstieg von Gewalt hinausgehen. (Britta Schweighöfer)