Seit mehreren Jahren befindet sich Haiti in einem gelähmten Zustand, dem sogenannten Peyi Lòk. Vor allem die junge Generation demonstriert gegen die Korruption in der Regierung, für einen Systemwechsel und für bessere Lebensbedingungen. Die FIAN-Gruppe in Haiti hat einen Bericht zur aktuellen Situation veröffentlicht (1), die von den Auswirkungen der COVID-Pandemie überschattet wird.
Haiti blieb relativ lang vom Corona-Virus verschont. Erst am 19. März 2020 wurde das Virus zum ersten Mal nachgewiesen. Die Antwort darauf war ein monatelanger harter Lockdown. In dem ohnehin instabilen Land wurden die Lebensbedingungen durch die Ausgangsbeschränkungen zusätzlich erschwert.
International in Erinnerung geblieben ist das Erdbeben von 2010, welches das Land wirtschaftlich, politisch und sozial – im wahrsten Sinne des Wortes – erschüttert hat. Der aktuelle Bericht von FIAN Haiti zeigt auf, dass zahlreiche Instandsetzungen bis heute ausstehen, darunter die des wichtigsten Krankenhauses, dem Hôpital de L´Université d`État d`Haiti in der Hauptstadt Port-au-Prince. Das Viertel um das Krankenhaus wird von kriminellen Banden kontrolliert, in der Bevölkerung herrschen Unsicherheit und Angst. Benachbarte Krankenhäuser sind überlastet.
Der Zugang zu gesundheitlichen Dienstleistungen ist im ganzen Land schlecht. Gesundheitszentren sind unzureichend ausgerüstet. 22 Prozent der haitianischen Gemeinden besitzen keine sanitäre Infrastruktur. Ein Manko besteht laut FIAN Haiti auch in den fehlenden Kontrollen in Handel und Verkauf von medizinischen Produkten, Nahrungsmitteln und Medikamenten. Wirksame Kontrollen könnten die hohe Kindersterblichkeit senken, die 2019 bei 6,3 Prozent – und damit rund zwanzigmal so hoch wie in Deutschland lag (2).
Verletzungen des Rechts auf Gesundheit
„Haiti hat die Pflicht, das Recht auf Gesundheit zu respektieren, zu schützen und zu realisieren, alle nötigen Maßnahmen zu unternehmen, so dass ohne Unterscheidung alle Menschen Zugang zu Gesundheitsversorgung haben, und alle Maßnahmen zu unternehmen, um Pandemien und andere Krankheiten auf dem Staatsgebiet vorzubeugen, einzudämmen und zu kontrollieren.“ (Report FIAN Haiti, Seite 25)
Das Recht auf Gesundheit wird zwar in der Verfassung des Landes als Grundrecht festgeschrieben. Die mangelnde sanitäre Infrastruktur zeigt jedoch, dass das Gesundheitssystem in Haiti keine staatliche Priorität genießt. Auch mit Ausbruch der Pandemie hat der Staat wenig getan, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern. FIAN Haiti nennt die Situation diskriminierend und eine Verletzung des Rechts auf Gesundheit. Um dieses zu gewährleisten, müsste der Zugang zu einer angemessenen Gesundheits- und Nahrungsversorgung garantiert werden.
Doch bereits vor der Pandemie steckte das Land in multiplen Krisen. So erlebte nach Angaben der Nationalen Koordinationsstelle für Ernährungssicherheit (CNSA) 2019 die Hälfte der Haushalte im vorangegangenen Monat Hunger (3). Die Nahrungsunsicherheit korreliert eng mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise der vergangenen Jahre. Der Zustand des Peyi Lòk verlangsamt die wirtschaftlichen Aktivitäten und heizt die soziale Lage weiter an.
Seit 2018 mobilisieren immer mehr Menschen gegen die staatlichen Institutionen, die sich kaum für die Belange der Bevölkerung und für die Entwicklung des Landes einsetzen, sondern sich von Korruption und Eigeninteresse leiten lassen. „Diese Demonstrationen werden von den ökonomischen Eliten und politischen Instanzen (gewaltsam) beendet, welche eigene Interessen verfolgen, ohne dass Verbesserungen für die Bevölkerung daraus resultieren.“ (Report FIAN Haiti, Seite 12).
Die Wirtschaftsleistung und der Wert der Währung sinken. Gleichzeitig steigen die Lebensmittelpreise: zwischen April 2018 und April 2019 um 17,1 Prozent, zwischen Mai 2019 und Mai 2020 sogar um 23,3 Prozent. Die Landwirtschaft leidet unter klimatischen Veränderungen und mangelnder Unterstützung durch die Regierung. „Der haitianische Agrarsektor hat ernsthafte Probleme aufgrund einer unzureichenden Agrarpolitik und dem Eindringen importierter Produkte, welche die kleinen Produzent*innen verdrängen“, so der Report von FIAN Haiti (S. 35).
Ungerechte Wasserverteilung
Wasser ist in Haiti eigentlich kein knappes Gut. Doch auch hier zeigen sich Mängel in der staatlichen Verwaltung und Verteilung. Das Menschenrecht auf Wasser ist erst dann erfüllt, wenn Wasser für jeden Menschen ausreichend, sicher, zugänglich und erschwinglich ist. Laut dem Länderbericht EMMUS-VI von 2016-2017 haben jedoch nur 14 Prozent der haitianischen Haushalte direkten Zugang zu Wasser auf dem eigenen Grundstück, während 56 Prozent einen Weg von bis zu 30 Minuten zu einer Trinkwasserquelle zurücklegen müssen (4). Ein Drittel der Haushalte muss Wasser in Flaschen oder Tüten kaufen, so EMMUS-VI. Besonders ärmere Bevölkerungsgruppen stellt dies vor große Herausforderungen und macht sie noch vulnerabler. Zudem nimmt die Wasserqualität ab. Gründe dafür sind unkontrollierte Landnutzung, Umweltprobleme und Klimaveränderungen, wie zum Beispiel die Versalzung des Grundwassers, welche die Nahrungsmittelproduktion weiter verschlechtert.
Harter Lockdown
Die haitianische Regierung führte sehr schnell einen Lockdown ein. Hierzu gehörten die Sperrung der haitianisch-dominikanischen Grenze und die Schließung lokaler Märkte. Betroffen waren davon vor allem Wanderarbeiter*innen, Landwirt*innen, Zwischenhändler*innen und Angestellte in der Textilindustrie und in den Schulen. 99 Prozent der städtischen und 94 Prozent der ländlichen Haushalte waren von den Maßnahmen betroffen. Rund ein Zehntel der Bevölkerung wurde arbeitslos. Über 80 Prozent der Bevölkerung erleiden durch die Pandemie bzw. den Lockdown Einkommensverluste (5).
Am Beispiel der Madans Sara werden die Auswirkungen der Pandemie sehr deutlich. Die Madans Sara sind meist alleinerziehende Frauen. Sie spielen bei Kauf, Transport und Handel mit landwirtschaftlichen Produkten eine zentrale Rolle und tragen somit zur Ernährungssicherheit bei – dennoch wird ihnen auf politischer Ebene kaum Anerkennung entgegengebracht. Im Lockdown können sie zwar weiterhin arbeiten, aber nur in eingeschränktem Ausmaß: Märkte werden geschlossen, die Frauen haben weniger Kaufkraft im Voraus, und sie sind vermehrt kriminellen Banden ausgesetzt – gerade auch im ländlichen Raum. Das fehlende Engagement gegen die Banden bestätigt, dass die Regierung dem Recht auf Leben und dem Schutz der Bürger*innen nur wenig Bedeutung schenkt. Anstatt die rund eine Million Landwirt*innen und Verkäufer*innen auf den Märkten während des Lockdowns zu unterstützen, hat die Regierung ihren Fokus auf den Import gelegt, wodurch die Ernährungssouveränität weiter untergraben wird. „Während des Lockdowns sind die Menschen gezwungen, zuhause zu bleiben, um ihr Leben zu schützen. Allerdings müssen sie das Haus verlassen, um sich ernähren zu können“, so der FIAN-Report (S. 39).
Die Regierung kommt ihrer staatlichen Aufgabe, für die Bevölkerung eine durchgehend gesunde Ernährung sicherzustellen, nicht nach. Zwischen März und Juni 2020 wurden 4,1 Mio. Menschen in Haiti als „in Ernährungsunsicherheit schwebend“ eingestuft (6). Die FAO nennt einen Anteil von 48,2 Prozent der Bevölkerung, die zwischen 2017 bis 2019 unter Mangelernährung litt (7). Die COVID-Pandemie dürfte diese Zahlen weiter erhöht haben.
Spätfolgen des Erdbebens
Ein Ort, der unter der fehlenden Unterstützung besonders leidet, ist Canaan. Das Stadtviertel am Rand vom Porte-au-Prince entstand 2010 nach dem Erdbeben für diejenige, die ihr Obdach verloren. Die versprochene Unterstützung durch Regierung und Hilfsorganisationen blieb jedoch aus. „Der Regierung ist unsere Situation vollkommen egal. Sie lässt uns in Armut verhungern. Hier gibt es kein Wasser, kein Krankenhaus, keine Schule“, so einer der 80.000 Bewohner*innen (8). Die Bevölkerung hält zusammen und hat in den vergangenen zehn Jahren eine Schule und eine Kirche gebaut; zudem gibt es eine selbst organisierte Wasserquelle. Doch eine Besserung der Lebensbedingungen ist kaum in Sicht. Ein wirtschaftliches Leben existiert kaum, Arbeitsplätze gibt es nicht. Zum Leben haben die meisten Menschen weniger als einen Dollar pro Tag. Die einzige Hoffnung scheint der Glaube an Gott zu sein. Die Hoffnung in die Regierung ist verloren. (Mareike Schweizer)
(1) FIAN INTERNATIONAL/HAITI 2020: Diagnostic de l`Impact de la Pandémie de COVID-19 sur le Droit à l`Alimentation et à la Nutrition en Haiti. www.fian.org/en/publication/article/haiti-diagnostic-de-limpact-de-la-pandemie-de-covid-19-sur-le-droit-a-lalimentation-et-a-la-nutrition-2756 [07.06.2021].
(2) Urmersbach, Bruno 2020: Haiti: Kindersterblichkeit von 2009-2019. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/754237/umfrage/kindersterblichkeit-in-haiti [22.06.2021].
(3) ENUSAN 2019: Enquête Nationale d`Urgence sur la Sécurité alimentaire et nutritionelle. www.cnsahaiti.org/Web/Etudes/2019/ENUSAN%202019_CNSA_Rapport%20final.pdf [07.06.2021].
(4) Enquête Mortalité, Morbidité et Utilisation des Services (EMMUS-VI) 2016-2017: Haiti: Rapport de Synthèse. https://dhsprogram.com/pubs/pdf/FR326/FR326.pdf [23.06.2021].
(5) SAMEPA 2020: Evaluation rapide de l`Impact COVID-19 sur la Sécurité alimentaire, Moyens d`Existence et Production agricole. www.cnsahaiti.org/Web/Etudes/2020/Rapport%20final%20Evaluation%20SAMEPA%20_29102020.pdf [07.06.2021].
(6) CNSA/MARNDR 2020: Bulletin: Panier alimentaire et Conditions de Sécurité alimentaire. www.cnsahaiti.org/Web/Food_Basket/Mars2020/Foodbasket%20Mars%20%202020%20%20FINAL.pdf [07.06.2021].
(7) Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) 2020: The State of Food Security and Nutrition of the World 2020. www.fao.org/3/ca9692en/online/ca9692en.html [22.06.2021].
(8) Arte 2020: Haiti: Vor dem totalen Zusammenbruch. www.arte.tv/de/videos/094601-000-A/haiti-vor-dem-totalen-zusammenbruch [23.06.2021].