In der vergangenen Woche publizierten wir zusammen mit Brot für die Welt eine Presse Info zur Veröffentlichung unseres „Jahrbuchs zum Recht auf Nahrung“, das sich in diesem Jahr mit dem Thema Digitalisierung befasst (die Presse Info finden Sie hier).
Uns erreichte hierzu eine Stellungnahme des Ernährungssoziologen und FIAN-Mitglieds Dr. Daniel Kofahl, der in unserer Pressemitteilung eine undifferenzierte Kritik an modernen Produktionsmethoden sowie eine nicht-Berücksichtigung der Chancen, die die Digitalisierung der Landwirtschaft bietet, monierte (die vollständige Zuschrift findet sich hier).
Wir dokumentieren an dieser Stelle unser Antwortschreiben:
Lieber Daniel,
danke für Deine Nachricht, die wir bei uns im Team diskutiert haben. Dass man in einer Pressemitteilung Sachverhalte „ausspart“ (so Deine Kritik) liegt in der Natur der Sache bzw. von Pressemitteilungen. Und auch diese kurze Replik wird das Thema nicht bis ins Detail durchsprechen können.
Im Kern bewertest Du die Positionen von FIAN als zu „undifferenziert“. Wir möchten aber unterstreichen, dass Ansatz, Blickwinkel und Mandat einer Menschenrechtsorganisation sehr spezifisch sind: Wir schauen auf marginalisierte Gruppen und versuchen, Auswirkungen von Politiken und Entwicklungen explizit auf diese Gruppen zu bewerten. Daraus erwächst unser Anspruch, die Forderungen und Strategien solcher Gruppen, die in unserem Fall vor allem marginalisierte ländliche Gruppen wie Indigene, KleinbäuerInnen, Landlose oder Frauen umfassen, aufzugreifen, zu unterstützen und ggfs. zu verstärken.
Die Kontexte von Menschenrechtsverletzungen – in unserem Fall vor allem Verletzungen des Rechts auf Nahrung – sind immer gekennzeichnet von einem extremen Machtgefälle. Dieses Machtgefälle verschärft sich nach unserer Erfahrung durch die aktuellen Prozesse der Digitalisierung. So halten die Vereinten Nationen in einem ganz aktuellen Bericht fest: “the digital economy creates significant new regulatory policy challenges because (…) digitalization can cause rising inequality and generate barriers to market entry. The overwhelming control over digital platforms by a few firms points to the need for active consideration of policies to prevent anticompetitive behaviour by such firms, as well as potential misuse of data that are collected in the process” (UNCTAD Trade & Development Report 2018; unsere Hervorhebungen). Das Problem des Machtmissbrauchs im Kontext der Digitalisierung (nicht nur, aber auch in der Landwirtschaft) ist aus unserer Sicht immanent und nicht wegzudiskutieren. Wir bewerten die politische Großwetterlage aktuell so, dass die Chancen schlecht stehen, dass die im Zitat angesprochenen regulatorischen Herausforderungen angemessen angegangen werden.
Undifferenziert nehmen wir vielmehr den sehr dominanten und einseitigen Jubel rund um das Thema Digitalisierung in der Landwirtschaft wahr (BMEL, BMZ, Privatwirtschaft, Wissenschaft und viele NGOs), die die Digitalisierung als Heilsbringer und Lösung fast aller agrarischer Probleme feiern. Die positiven Effekte für Armutsgruppen, Hungerbekämpfung und den Kampf gegen den Klimawandel werden sehr hervorgehoben – und nicht etwa die sehr realistische Aussicht auf Macht- und Renditezuwächse weniger marktdominierender Konzerne und Investoren.
Angesicht dieses einseitigen Diskurses finden wir es problematisch, die wenigen kritischen Stimmen auch noch einseitig abzubügeln. Nach unserer Erfahrung wird auf diese Weise oftmals strategisch angesetzt, um Kritik von Beginn an zu diskreditieren. Parallele Entwicklungen haben wir zum Beispiel beim Thema Agrartreibstoffe erlebt, bei dem in den Narrativen zu Beginn ganz besonders darauf Wert gelegt wurde, welche gewaltigen Entwicklungschance der Agrartreibstoffmarkt für die arme ländliche Bevölkerung im Globalen Süden böte. Nichts davon hat sich bewahrheitet. FIAN wurde – ähnlich wie jetzt von Dir – von GIZlerInnen kritisiert, dass wir Kritik an der dominanten Sicht äußerten. Aus einer Vielzahl solcher Erfahrungen erklärt sich, warum unsere Skepsis nicht von ungefähr kommt.
Bleiben wir nur mal kurz in Deutschland. Wird die Digitalisierung in der Landwirtschaft dazu beitragen, dass mehr bäuerliche Betriebe (heute 290.000) entstehen? Oder wird sich der Trend zu weiterer Konzentration (Land, Saatgut, Kapital, Produktion, Verarbeitung) verschärfen? Wir meinen, dass die Antwort für Deutschland – und viel massiver für den Globalen Süden – die weitere Verdrängung von bäuerlichen Betrieben / Familienbetrieben ist. Hierzulande ist diese Entwicklung beschäftigungspolitisch verkraftbar (wenn auch ökologisch schädlich). Ganz anders sieht es im Globalen Süden aus: mit über 2,5 Milliarden Menschen finden dort mehr Personen in der Landwirtschaft ihr Auskommen als jemals zuvor in der Geschichte. Vor dem Hintergrund nicht existenter sozialer Sicherungssysteme sowie einem seit vielen Jahren anhaltenden „Jobless Growth“ haben die aus der Landwirtschaft verdrängten Gruppen keine Alternativen in Aussicht, schon gar nicht qualitativ hochwertige Jobs in Industrie oder Dienstleistungssektor.
Nochmal konkret zur Pressemitteilung: einer der Berichte im aktuellen Jahrbuch zum Recht auf Nahrung (dieses war die Grundlage der Pressemitteilung) ist die Zusammenfassung eines 120-seitigen Rechercheberichts zu den Auswirkungen von Digitalisierung und Finanzialisierung der industriellen Agrarproduktion in Brasilien. Wir haben einige Jahre lang sehr viel Energie in diese Recherche gesteckt (ganz zu schweigen von den Bedrohungen der lokalen Bevölkerung) und finden es nicht gerechtfertigt, diese Erfahrungen und Analysen als einfach mal so in die Öffentlichkeit posaunt darzustellen. Du findest den Bericht hier im Jahrbuch (ganz nebenbei: unser internationales Sekretariat hat am 9. Oktober ein Online-Seminar zum Thema Digitalisierung angeboten. FIAN Deutschland hat am 11. Oktober zusammen mit dem Alternativen Nobelpreisträger Pat Mooney eine öffentliche Diskussionsveranstaltung zum Thema Digitalisierung organisiert und dort eine Studie zu Digitalisierung vorgestellt).
Zum Schluss möchten wir kurz auf Dein inhaltliches Argument eingehen. Inhaltlicher Kern deiner Kritik ist, dass wir folgenden Dreisatz nicht akzeptieren würden: technologischer Fortschritt (anhaltende Grüne Revolution) = Produktivitätssteigerung = Hungerbekämpfung. Dazu setzen wir uns kurz mit deinem Schaubild auseinander.
Dieses zeigt zwei zentrale Dinge NICHT: Der Großteil der Armen und Hungernden (70 – 80 % leben im ländlichen Raum) ernähren sich selbst und werden nicht vom Anwachsen der Produktion erreicht. Auch ist es irreführend, wenn in der von Dir ausgewählten Grafik von „Nahrungsmitteln“ gesprochen wird. Etwa 60 – 70 % (!) davon sind Agrarprodukte, die als Futtermittel oder für die Energiegewinnung oder andere industrielle Zwecke verwendet werden.
Was das Schaubild aber richtigerweise zeigt und im Untertitel sogar erklärt: „Somit befinden wir uns derzeit in einem einmaligen historischen Zeitfenster, in dem mehr Nahrungsmittel (in Kcal) zur Verfügung stehen als gebraucht würden, um die Weltbevölkerung ausreichend zu ernähren.“ Warum liegen die Hungerzahlen dann unverändert hoch? Wegen der Kritik an der Industrialisierung und Digitalisierung der Landwirtschaft? Oder wegen der Unproduktivität der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen? Nein, KleinproduzentInnen haben einen höheren Flächenertrag als die Plantagenwirtschaft (von den ökologischen Vorteilen ganz zu schweigen). Nein, die aktuelle Situation basiert auf Machtmissbrauch einer (relativ gesehen) kleinen Gruppe von Konzernen und Investoren. Deren Interesse ist es, Rendite zu generieren. Durch nationale und globale Rahmenbedingungen werden sie massiv bevorteilt. Und sie agieren losgelöst von lokalen Kreisläufen und Strukturen. Zahlt der Autofahrer in Deutschland mehr, so wird auf dem Acker in Sierra Leone Zuckerrohr für Ethanol angebaut anstatt Nahrung von und für die lokale Bevölkerung.
Diese Erfahrungen führen zu unserer Analyse, dass Hunger bis heute in erster Linie politische, menschengemachte Ursachen hat. Deswegen halten wir unsere Kritik an den massiv propagierten technischen Lösungen (u.a. der Digitalisierung) für richtig. Natürlich bedeutet dies nicht, dass die Digitalisierung den marginalisierten Gruppen nicht auch Vorteile bringen kann (auch hierzu gibt es Beispiele im aktuellen „Right to Food and Nutrition Watch“). Aber solange die Datenkontrolle bei wenigen global playern liegt (nicht nur google und Facebook, die massiv in den Agrarmarkt expandieren, oder Bayer/Monsanto/Syngenta, sondern aktuell besonders die Landmaschinenhersteller wie John Deere) und es keine politischen Anstrengungen gibt, den Datenzugang zu regulieren, werden sich die Machtungleichgewichte weiter verschärfen.
Abschließend schreibst du, dass all diese Probleme (von dir am Thema Export beispielhaft hervorgehoben) „schlussendlich überhaupt nicht kausal mit der verwendeten Technik, sondern mit politisch-ökonomischen Fragen zusammen[hängen]“. Genau! Das geht doch in die gleiche Richtung wie unser Zitat in der Presseinfo: „Wichtige Gründe für die hohen Hungerzahlen – die Diskriminierung von Frauen und ländlicher Bevölkerung, Landgrabbing und die erzwungene Öffnung der Agrarmärkte in Entwicklungsländern – lassen sich nicht technisch lösen“. Oder??
Mit besten Grüßen aus Köln,
Deine FIANistas