Hamm, Köln, 23. Juni 2016: Anlässlich der morgigen Veranstaltung „Stark Organisiert“ des Entwicklungsministeriums (BMZ) zusammen mit dem Deutschen Bauernverband machen die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL, Mitgliedsorganisation von La Via Campesina) und die Menschenrechtsorganisation FIAN Deutschland darauf aufmerksam, dass die deutsche Politik bis heute keine systematischen Anstrengungen unternimmt, um Entwicklungsstrategien und Forderungen von KleinbäuerInnen aufzugreifen und umzusetzen.
„Seit 20 Jahren fordern wir eine Agrar- und Handelspolitik, die das Prinzip der Ernährungssouveränität in den Vordergrund stellt, um das immer stärker in die Industrialisierung gedrängte Ernährungssystem zu verändern,“ erklärt Elizabeth Mpofu, Generalkoordinatorin von La Via Campesina, die sich aktuell auf Deutschlandbesuch befindet. La Via Campesina ist eine internationale Bewegung mit 164 Mitgliedsorganisationen in 73 Ländern. Sie repräsentiert über 200 Millionen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, LandarbeiterInnen, Landlose, Indigene, MigrantInnen und ländliche Jugend weltweit. „Die Grüne Revolution hat 60 Jahre lang nicht den Hunger besiegt. Auch die deutsche Entwicklungspolitik muss die von den BäuerInnen selbst entwickelten und angewandten agrarökologischen und bäuerlichen Praktiken fördern.“
Obwohl das BMZ immer wieder die Bedeutung von KleinbäuerInnen für die Hungerbekämpfung anerkennt, hat es bis heute nicht das Gespräch mit La Via Campesina gesucht. „Das Entwicklungsministerium spricht zwar oft über KleinbäuerInnen, aber selten mit ihnen“, sagt Roman Herre von der Menschenrechtsorganisation FIAN. Dabei müssten die von Hunger am meisten betroffenen ländlichen Gruppen eigentlich die wichtigsten Partner bei der Erarbeitung von Entwicklungsstrategien sein. „Politische Ausgrenzung und Diskriminierung ländlicher sozialer Bewegungen – in ihren Ländern und auch hier – sind Kernursachen für anhaltenden Hunger und Armut“, ergänzt Herre.
Die Einbeziehung des Bauernverbandes bei der Hungerbekämpfung kritisierten schon Oppositionsfraktionen und Vertreter der SPD-Fraktion im Bundestag im Januar scharf. Auch die AbL sieht darin eine falsche Partnerwahl. „Im Milchsektor zeigt sich, dass die Versprechen von Industrie, Politik und Deutschem Bauernverband, auf den Weltmarkt zu setzen, sich als falsch erwiesen haben. Die dadurch entfachte Milchkrise ist eine der schlimmsten der letzten Jahrzehnte“, sagt Henrik Maaß, Bundesvorstand der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL). „Die daraus resultierenden Dumpingexporte bedrohen auch bäuerliche Strukturen in armen Ländern. Eine erfolgreiche Entwicklungshilfe braucht eine kohärente Agrarpolitik. Das heißt, jetzt die politischen Instrumente nutzen, um die preisdrückenden Milchüberschüssen abzubauen. Nur dann können sich die Preise zeitnah erholen. Um die Milchmenge zu reduzieren, müsste auch die Kraftfuttervergabe in der Spitze reduziert werden. Langfristig ist es notwendig, die Sojaimporte für Futtermittel abzubauen, um die Flächenkonkurrenz zu Nahrungsmitteln in den Anbauländern zu entschärfen.“
„Wir kämpfen weltweit für die Stärkung der kleinbäuerlichen Produktion, die auf bäuerlichen und agrarökologischen Methoden basiert und in erster Linien auf lokale Märkte abzielt“, so Elizabeth Mpofu weiter. „Wenn das deutsche Entwicklungsministerium sich ernsthaft mit Ernährungssouveränität auseinandersetzen will, steht La Via Campesina gerne für Gespräche zur Verfügung.“
Kontakt:
Roman Herre, Agrarreferent von FIAN Deutschland, r.herre(ät)fian.de,
Berit Thomsen, AbL-Referentin für Internationale Agrarpolitik,
Hintergrund:
Das Konzept der Ernährungssouveränität wurde von der internationalen Kleinbauern- und Landarbeiterbewegung La Via Campesina entwickelt und erlangte im Zusammenhang mit dem Welternährungsgipfel 1996 in Rom größere Aufmerksamkeit. In der Nyeleni-Erklärung von 2007 wird Ernährungssouveränität wie folgt beschrieben:
„Ernährungssouveränität ist das Recht auf gesunde & kulturell angepasste Nahrung, nachhaltig und unter Achtung der Umwelt hergestellt. Sie ist das Recht auf Schutz vor schädlicher Ernährung. Sie ist das Recht der Bevölkerung, ihre Ernährung und Landwirtschaft selbst zu bestimmen. Ernährungssouveränität stellt die Menschen, die Lebensmittel erzeugen, verteilen und konsumieren, ins Zentrum der Nahrungsmittelsysteme, nicht die Interessen der Märkte und der transnationalen Konzerne. Sie verteidigt das Wohlergehen kommender Generationen und bezieht sie ein in unser vorsorgendes Denken. Sie ist eine Strategie des Widerstandes und der Zerschlagung derzeitiger Handels- und Produktionssysteme, die in den Händen multinationaler Konzerne liegen. Die Produzierenden sollen in ihren Dörfern und Ländern ihre Formen der Ernährung, Landwirtschaft, Vieh- und Fischzucht selbst bestimmen können. Ernährungssouveränität stellt lokale und nationale Wirtschaft und Märkte in den Mittelpunkt. Sie fördert bäuerliche Landwirtschaft, Familienbetriebe sowie den traditionellen Fischfang und die Weidewirtschaft. Erzeugung, Verteilung und Verbrauch der Lebensmittel müssen auf sozialer, wirtschaftlicher und umweltbezogener Nachhaltigkeit beruhen. Ernährungssouveränität fördert transparenten Handel, der allen Völkern ein gerechtes Einkommen sichert und den KonsumentInnen das Recht verschafft, ihre Nahrungsmittel zu kontrollieren. Sie garantiert, dass die Nutzungsrechte auf Land, auf Wälder, Wasser, Saatgut, Vieh und Biodiversität in den Händen jener liegen, die das Essen erzeugen. Ernährungssouveränität bildet und stützt neue soziale Beziehungen ohne Unterdrückung und Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, Völkern, ethnischen Gruppen, sozialen Klassen und Generationen.“