Sofia Monsalve, Generalsekretärin von FIAN International und Saskia Richartz vom Ernährungsrat Berlin sind zentrale Akteurinnen in den Debatten um die Bekämpfung von Ernährungsunsicherheit. Bei der zivilgesellschaftlichen Konferenz in Berlin Anfang Juni zum 20. Jubiläum der Leitlinien zum Recht auf Nahrung sowie der daran anschließenden Politik gegen Hunger-Konferenz (PgH) des Bundeslandwirtschaftsministeriums kamen ihnen bedeutende Rollen zu. Im Interview mit FIAN sprechen sie über neue politische Dynamiken und Chancen für die Umsetzung des Rechts auf Nahrung.
Sofia und Saskia, was nehmt ihr mit von der diesjährigen Politik gegen Hunger-Konferenz und der zivilgesellschaftlichen Vorkonferenz?
Sofia Monsalve: Sowohl auf der Vorkonferenz als auch auf der PgH fand ich es sehr spannend zu sehen, wie lebendig die Leitlinien sind. Das ist nicht selbstverständlich, denn es gibt viele UN-Dokumente, die komplett vergessen wurden. Zudem war das Thema Hunger im Kontext von Krieg und Konflikt sehr präsent. Diese Diskussionen fand ich sehr wichtig, da es hier aus der Perspektive des Rechts auf Nahrung noch eine Menge zu tun gibt.
Das zweite Thema, das diese Lebendigkeit zeigte, war die Diskussion um das Recht auf Nahrung in Deutschland. Obwohl es die PgH schon seit über 14 Jahren gibt, wurde das Recht auf Nahrung nie in Bezug auf Deutschland diskutiert. Das liegt daran, dass immer noch die Vorstellung vorherrscht, dass hier niemand hungert und es daher auch keine Verletzung des Rechts auf Nahrung gäbe. Das ist besorgniserregend, denn gerade wenn wir nicht nur Hunger, sondern auch Mangelernährung miteinbeziehen, wird klar, dass Ernährungsunsicherheit auch in Deutschland ein großes Problem darstellt.
Saskia Richartz: Meine Kolleg*innen und ich vom Netzwerk der Ernährungsräte und dem nationalen Armutsnetzwerk waren dieses Jahr das erste Mal dabei. Ich war überrascht, wie einfach die Integration der nationalen und internationalen Perspektive für die zivilgesellschaftlichen Organisationen war. Der Regierungs- und Verwaltungsebene fällt es augenscheinlich etwas schwerer, solche Synergien zu schaffen. Umso wichtiger war die Beteiligung von armutserfahrenen Menschen und Ernährungsräten in Deutschland. Die Konferenzen haben mir Mut gemacht, das Feld zwischen den politischen Zielvorstellungen und der Realität stetig weiter zu beackern und so hoffentlich die Kluft zwischen Realität und Ambitionen zu schließen.
Sofia, Du bist eng verbandelt mit bäuerlichen Organisationen, setzt Dich seit Jahrzehnten für die Umsetzung des Rechts auf Nahrung ein und bist Expertin für die internationalen Debatten über die Bekämpfung von Hunger. Wie haben soziale Bewegungen die Leitlinien für sich nutzen können und welche Schritte auf politischer Ebene müssen nun folgen?
Wir merken, dass die Interpretation der Leitlinien stark von der Praxis und den gemachten Erfahrungen geprägt ist. Ein Beispiel dafür ist die politische Teilhabe von Ernährungsräten: Die Forderungen, die wir jetzt in Bezug auf die Demokratisierung von Ernährungssystemen und der Partizipation von den am meisten benachteiligten Gruppen vertreten, sind deutlich stärker als der eigentliche Wortlaut der Leitlinien. Wir sehen auch, dass in der Praxis die Menschen die Umsetzung einfach selbst in die Hand nehmen – wie zum Beispiel in Brasilien mit dem nationalen Ernährungsrat CONSEA. Genau diese Demokratisierung, die zivilgesellschaftlich schon passiert, sollte auch vom UN-Ausschuss für Welternährung (CFS) weltweit vorangetrieben werden.
Die Umsetzung der Leitlinien ist daher eine Forderung, die auf der Jahresversammlung des CFS im Oktober 2024 gestellt werden muss. Auch die Welternährungsorganisation FAO und andere UN-Organisationen müssen dazu gebracht werden, die Leitlinien stärker zu unterstützen. Die Leitlinien sollten auch mehr in Verbindung mit anderen Politikempfehlungen des CFS gedacht werden, zum Beispiel mit deren Handlungsempfehlungen in anhaltenden Krisen. In der Realität zeigt sich ja oft, dass Themen zusammenhängen und zusammengedacht werden müssen.
Saskia, Du bist eine wichtige Stimme des Netzwerks der Ernährungsräte in Deutschland. Wie bewertest Du die nationale Ernährungspolitik der Bundesregierung?
Wie sagt man so schön – der Kaiser ist nackt! Anfang 2024 hat die Bundesregierung erstmalig eine Ernährungsstrategie veröffentlicht, in der sie eine geplante interministerielle Task Force gegen Ernährungsarmut kurzerhand unter den Tisch hat fallen lassen. Insbesondere die Sozialdemokrat*innen verweigern sich hierzulande der wachsenden und realen Not in armutsgefährdeten Haushalten. Das ist schockierend! Außerdem ignoriert die Politik die rasant steigenden Folgekosten einer ungesunden und nicht nachhaltigen Ernährung. Eine Ernährungsstrategie, die sich um diese Themen nicht kümmert, ist ebenso wertlos, wie ein Recht, das man nicht kennt.
Welcher grundlegende Wandel muss innerhalb der Ernährungssysteme in Deutschland, aber auch international stattfinden, damit das Recht auf Nahrung konsequent umgesetzt werden kann?
Saskia: Es braucht institutionalisierte Beteiligungsprozesse auf nationaler und internationaler Ebene, die Menschen mit Armuts- und Diskriminierungserfahrung in Gespräche, Verhandlungen und Umsetzung miteinbeziehen. Ihre Perspektiven sind wichtig, und natürlich können sie die Barrieren im Ernährungssystem am besten identifizieren und ihre Not artikulieren. Das Modell des brasilianischen Ernährungsrats und der Zivilgesellschafts- und Indigenen Mechanismus (CSIPM) innerhalb des CFS können hier als Vorbilder angesehen werden. Zudem benötigen wir lobbyfreie Räume, sonst wird das Recht auf Nahrung immer wieder hinter Wirtschaftsinteressen gestellt.
Krasserweise leben wir aktuell in einer Welt, in der die Annahme vorherrscht, dass es ein Privileg ist, gut genährt zu sein. Und gleichzeitig gilt der Überfluss von nährwertlosen, industriellen Lebensmitteln zum Freiheitskonzept eben jener privilegierten Gesellschaft. In Deutschland muss sich das Recht auf angemessene Nahrung aber endlich in einer Anhebung der Sozialleistungen widerspiegeln. Außerdem sind Investitionen in ein beitragsfreies Schulessen, in Kantinen und ähnliche Versorgungsstrukturen überfällig.
Neben den Instrumenten der öffentlichen Beschaffung und Fiskalpolitik sollte der Staat auch Betriebe und die Privatwirtschaft in die Pflicht nehmen. Beherzte Umsetzungsprogramme können sogar die bäuerliche Landwirtschaft in Deutschland stärken. Brasilien macht es vor! Dort gibt es enorme Erfahrungen mit agrarökologischen Versorgungsstrukturen, vielfältigen Anbausystemen und Graswurzelbeteiligung.Nur wenn wir hier in Deutschland das Recht auf Nahrung alltagstauglich umsetzen, können wir das Recht aller Menschen in der Welt respektieren, Hunger lindern und unseren planetaren Ressourcenverbrauch mindern. Im Kampf gegen den Hunger müssen wir alle Reihen schließen! Nicht zuletzt, um unsere Regierungen und mächtige Konzerne in die Pflicht zu nehmen.
Sofia: Ich finde, dass wir es in Zukunft ernst meinen müssen, dass Nahrung keine Ware sein darf. Das heißt dann auch, dass das ganze Ernährungssystem umgestaltet werden muss hin zu einer Form, in der die Konzerne nicht mehr so viel Macht haben. Anders als bei Nahrung wird bei Bildung selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie öffentlich ist und auch öffentlich bleiben soll. Ernährung hingegen wird nicht als öffentliche Dienstleistung angesehen, sondern findet viel im privaten, profitorientierten Sektor statt. Ich finde aber, dass gerade auch öffentliche Einrichtungen und sozial-solidarische Institutionen wie kleinbäuerliche Kooperativen mit agrarökologischer Produktion und Kleinbetriebe stärker unterstützt werden sollten, weil diese nicht um den Profit organisiert sind.
Wie genau die Neugestaltung des Ernährungssystems aussehen kann, sollte in einem demokratischen Prozess entschieden werden. Ein paar Tage nach der zivilgesellschaftlichen Vorkonferenz gab es ja sogar die Berlinerklärung, in der genau das gesagt wurde, was die Ernährungssouveränitätsbewegung fordert: Wir brauchen eine Regulierung von Ernährungsmärkten hin zu einer Abschaffung der Machtkonzentration in Ernährungssystemen. Es ist unsere Aufgabe, weiter darüber zu diskutieren und mehr Menschen für diese Sicht der Dinge zu gewinnen.
Das Interview wurde geführt, transkribiert und redigiert von Jan Dreier, Johanna Hecht und Nina Uretschläger.